Sei ein Mensch!

München, Israelisches Konsulat, Barerstraße, kurz nach 9 Uhr heute Morgen: Der junge Mann läuft verwirrt umher und schießt ziellos umher.

Heute sehe ich ihn wieder: meinen Nazi-Großvater, wie er verwirrt umherläuft und ziellos umherschießt. Ziellos, weil er glaubt, wenn er andere trifft, trifft er sich selbst nicht. Die Vermeidung der Selbstbetroffenheit, denn die Wunde ist zu groß, um angeschaut zu werden. Deshalb klafft sie immer wieder auf.

Doch es muss doch das Ziel unseres Menschseins sein, diese Wunde anzuschauen und zu versorgen. Sei kein Islamist, sei kein Semitist, sei kein Germanist. Flüchte dich nicht, triff dich selbst.

Sei betroffen! SEI EIN MENSCH!

 

 

 

Automaten (und sonstiges preussisches Geschwätz)

Die Umstände, die mich nach Mainz führten, können hier nicht näher erörtert werden. Wichtig ist jedoch, dass ich mich, als ich in Mainz war, an einen Bekannten erinnerte, der in der Nähe von Mainz, auf dem Gebiet einer ehemaligen, jetzt trockengelegten Aulandschaft, Tomaten züchtet und anbaut. Er nennt sein Produkt Automaten und findet das sehr lustig und originell. Ich finde es: naja – hat nicht Willy Astor schon über Au-Tomaten referiert? Und wie sagt Astor über sich selbst so richtig: Wortspiele sind rein mein Gebiet.

Das bringt mich zurück nach Mainz, wo der Main in den Rhein fließt, sozusagen ins Herz des Rhein-Main-Gebiets. In Mainz jedenfalls klingelte mein Mobiltelefon, und wie es der Plot dieser Geschichte wollte, war es mein Bekannter, der Tomatenzüchter aus Mainz, der mich anrief. Ich zögerte, ans Telefon zu gehen, war ich doch nach Mainz gekommen – so viel kann ich sagen -, um allein zu sein, oder zumindest, um niemanden zu treffen. Doch das Telefon klingelte und vibrierte mit ausdauernder Penetranz, sodass ich dran ging.
„Na, mein Freund!“ erschallte sofort die Stimme meines Bekannten: „In welchem Gebiet treibst du dich gerade herum?“
„Wie kommst du darauf?“ fragte ich mit einer Mischung aus Verunsicherung und Ablehnung.
„Wie komme ich worauf?“
„Mich zu fragen, in welchem Gebiet ich mich gerade rumtreibe!“
Er lachte lautstark, um ohne Pause mit seinen Ausführungen fortzufahren:
„Ich bin gerade in Österreich, Urlaub im Salzburger Land. Und fast jeder Einheimische, mit dem ich ein Gespräch beginne, sagt nach kurzer Zeit: Gebiete! Ich habe keine Ahnung, was sie damit meinen. Aber um das Gespräch nicht ins Stocken zu bringen, rede ich einfach weiter. Die meisten winken dann ab und entfernen sich wortlos von mir. Was ist bloß los mit diesen Leuten? Und was meinen sie mit Gebiete?

Kurz überlegte ich, ebenfalls abzuwinken und das Gespräch wortlos zu beenden, doch ehe ich mich dazu entschließen konnte, redete er weiter:
„Ich habe an dich gedacht, der du als Bayer ein halber Österreicher bist. Kannst du mir weiterhelfen?“
Ich atmete tief durch, dann entgegnete ich:
„Sie sagen nicht Gebiete!, sondern Geh bitte!
„Nein, ganz bestimmt nicht: Sie sagen Gebiete, das I sprechen sie sehr lang.“ protestierte er vehement.
„Das machen die Österreicher gerne: Vokale lang sprechen. Und wahrscheinlich sagen sie Geh bitte! nicht im wörtlichen Sinn zu dir, sondern eher im Sinne von Nicht schon wieder du, lass mich in Ruh! Wahrscheinlich bist du mit deinem preussischen Geschwätz schon ortsbekannt.“

Jetzt war Ruhe in der Leitung, und für einen Moment tat es mir leid, ihn verbal so scharf angegangen zu haben. Vor allem mit der Bezeichnung seines Geredes als preussisches Geschwätz hatte ich einen wunden Punkt berührt, war doch seine Familie über Jahrhunderte in Ostpreussen ansässig gewesen, bis sie nach dem Krieg von den Russen vertrieben wurde.
„Aber ich will nur lustig sein, da die Österreicher doch ein so lustiges Volk sind!“ sagte er, um Rechtfertigung ringend.
„Die Österreicher sind lustig, weil sie nicht lustig sein wollen. Und du bist nicht lustig, weil du lustig sein willst. Erzwungene Lustigkeit wie beim Karneval, wo dreimal die Fanfare erklingt, damit jeder weiß, dass er lachen muss, ist dem Österreicher fremd.“
„Komisches Volk!“ murmelte er in sich hinein: „Naja, so lange bin ich ja nicht mehr hier.“ Er sammelte sich und fragte: „Wann kommst du mal wieder nach Mainz?“
„In nächster Zeit eher nicht“, sagte ich: „Du weißt ja – Rhein-Main – das ist nicht so mein Gebiet.“

Der Platz in der Welt

Meinen Platz einzunehmen, das ist eine Sache, für die ich lange nicht mutig genug war, denn man sagte mir, dass jemand sich beschweren könnte, dass ich ihn unberechtigterweise oder falsch einnehme, also sei es besser, ihn gar nicht einzunehmen.

Doch das nur nebenbei, sagt Vorderbrandner, denn ich erzähle das nur, weil mir auffällt, dass mein Neffe – der mittlerweile einundzwanzig Jahre alt ist – seit der Corona-Zeit seiner Umwelt Probleme bereitet, indem er dauernd einen Platz einnimmt, der nicht seiner ist. Er geht herum mit Kopfhörern in den Ohren, Bierflasche in der einen und Kippe in der anderen Hand. Er geht dabei relativ gerade und statisch, doch manchmal holt er, wenn er Musik hört, die ihm gefällt, mit den Armen aus, dieses Ausholen ist für seine ihn umgebenden Mitmenschen, die die Musik nicht hören, schwer vorauszuahnen. So hat er bei einer dieser Ausholbewegungen vor kurzem einen Fahrradfahrer, der ihn gerade überholen wollte, voll im Gesicht erwischt. Der Radfahrer fiel dabei vom Fahrrad, was mein Neffe aber nicht bemerkte. Der Radfahrer richtete sich auf, fuhr ihm nach und wollte ihn zur Rede stellen, woraufhin mein Neffe widerwillig die Kopfhörer abnahm und meinte: Chill mal, Alter!

Ncoh häufiger passiert es aber, dass er, wenn er keine Kippe oder keine Bierflasche in der Hand, also eine Hand frei hat, sein mobiles Endgerät zückt, auf seinen Bildschirm starrt und dabei mitten auf einem belebten Platz stehenbleibt. Er schafft es dabei, allen Vorbeikommenden im Weg zu stehen. Neulich war ich einer der Vorbeikommenden. Ich stellte ihn zu Rede und sagte: Achte doch auf deine Umwelt! Du stehst total im Weg!

Da antwortete er mir: Es ist wichtig, Onkel Valentin, seinen Platz in der Welt einzunehmen. Das solltest du doch wissen!

Was wir heute sind

Nachts hatte ich geträumt, dass ich sterbe und es nicht geschafft habe, davor mein Leben zu leben. Dass ich wie ein Schatten vergehe, vom Schicksal geworfen, ohne etwas Eigenes, Selbständiges, gewesen zu sein.

Morgens, im Bett liegend, im Zustand des Erwachens, die Sonne leuchtete hell ins Zimmer, glaubte ich dann, ich selbst zu sein. Mein Leben schien in diesem Moment zusammenzulaufen. Alles lag klar vor mir, und ich glaubte zu wissen, wer ich bin.

Du erwachtest neben mir, und bevor du die Augen richtig geöffnet hattest, mehr im Halbschlaf murmelnd als mit klarer Stimme, sagtest du:
Schatten werfen keine Schatten.
Es wäre übertrieben, zu sagen, dass ich über deine Worte erschrak. Aber sie prägten sich ein wie ein erster Gruß am Morgen. Mein Gehirn sprang an und ich wollte dich fragen:
Warum sagst du das?, doch ehe ich es sagen konnte, risst du unsere Decken zur Seite und legtest dich auf mich.

Engumschlungen spürten wir uns. Ich schwebte mit dir kurvenreich über eine blumenreiche Sommerwiese, wie im schwindeligen Rausch, und wir landeten an einer Stelle, wo wir noch nie waren. Ich sah Tränen in deinen Augen und merkte, wie sie auch aus meinen flossen. Dummerweise wollte ich dich fragen, warum du weinst, obwohl ich auch weinte und genau wusste, warum du weinst, warum wir weinen, doch ehe ich dich fragen konnte, sagtest du:
Ich habe geträumt, dass wir nichts sind. Dass wir nur Schatten von anderen sind, ohne jemals wir selbst zu sein.

Aber wir sind doch wir selbst, jetzt, hier, sagte ich, ohne mir überlegt zu haben, dass ich das sagen wollte. In unsere Tränen mischte sich ein Lachen.
Stimmt, sagtest du, wahrscheinlich sind wir wir selbst, weil wir glauben, nicht wir selbst zu sein.

Idlewild – lethargisch, untätig

Manchmal überkommt mich eine Traurigkeit, eine tiefe tiefe Traurigkeit, wenn ich die Leere spüre, die wir durch unser lethargisches Untätigsein verursachen.

Wir verstecken uns hinter unseren Vorstellungen, um die Realität zu verhindern. Wir klammern uns an unsere Vorstellungen, um den Schmerz zu verhindern, den wir glauben, nicht ertragen zu können.

Manchmal traue ich mich, dir in die Augen zu schauen. Ich sehe das Feuer, das in dir brennt. Du wendest dich ab von mir, um dich abzukühlen, um das Feuer zu kontrollieren und dich ihm nicht hinzugeben.

Ich wende mich auch ab von dir, ich verschließe meine Augen, um meinen Glauben zu verstärken, aus diesem Alptraum nie aufwachen zu können. Aus diesem Alptraum, dein Feuer zu spüren, aber nie in seiner Wärme aufgehen zu können.

Wie viel Leid müssen wir noch erfahren, um unsere Masken endlich fallenzulassen?

Die Welt wird uns nie sehen, wenn wir nicht die Augen öffnen.
The world will never see you
till you open your eyes.
Idlewild.

Franz Hinterstoisser

Einer der Brüder meines Großvaters, Franz Hinterstoisser war sein Name, soll ein begnadeter Fußballspieler gewesen sein. So begnadet, dass später ein gewisser Franz Beckenbauer nach ihm benannt worden sein soll. So wurde es in meiner Kindheit erzählt. Sonst wurde über Franz Hinterstoisser wenig erzählt.

Die Legende, dass Beckenbauer nach ihm benannt ist, ist natürlich kompletter Schwachsinn, das war mir schon früh klar. Aber wieso wurde sie dauernd erzählt? Ich begann, über Franz Hinterstoisser im Familienarchiv zu recherchieren und fand heraus, dass er ein politischer Fanatiker war. Schon früh zog er aus dem bäuerlichen Elternhaus aus, das an den Hängen des Stoißbergs über dem Dorf Anger, im bayrischen Landkreis Berchtesgadener Land gelegen war, ins zwanzig Kilometer entfernte, österreichische Salzburg. In seinen Aufzeichnungen schreibt er, dass die Hinterstoissers seit Jahrhunderten eine Salzburger Familie seien, und er wolle im Zentrum des Hinterstoisserschen Universums leben, in der Stadt Salzburg, der Hauptstadt des Landes Salzburg. Er schreibt weiter, dass man es nicht hinnehmen könne, dass Bayern zuerst das Land Salzburg unter Besitz genommen, dann aber 1816 an Österreich abgetreten hat, dabei aber die linkssaalachischen und die linkssalzachischen Gebiete, den sogenannten Rupertiwinkel, das Stammland der Hinterstoissers, behalten habe und damit die Hinterstoissers von ihrer Hauptstadt Salzburg abgetrennt habe. Seitdem seien die Hinterstoissers zerrissen: Ihre Keimzelle am Stoißberg bei Anger wurde bayrisch, während ihre Hauptstadt Salzburg österreichisch wurde. Ein unerträglicher Zustand, der nun schon seit über hundert Jahren andauere, so schließt Franz seinen Eintrag aus dem Jahr 1931.

Ob und wo Franz in Salzburg seinen begnadeten Fußball spielte, konnte ich nirgends herausfinden. Ich erfuhr aus seinen Aufzeichnungen, dass er in den Untergrund ging und für den Anschluss Österreichs an Deutschland kämpfte: Wenn der Rupertiwinkel nicht mit Salzburg wiedervereint werden kann, so muss man eben größer denken, und Österreich mit Deutschland vereinen, schreibt er im Jahr 1932, und weiter: Schließlich hat sich auch Bayern von Preussen vereinnahmen lassen. Da sollte man mit Österreich, diesem südöstlichen Rumpfgebiet des deutschen Sprachraums, gleiches tun.

Für die NSDAP, die in Österreich ab 1933 verboten war, schmuggelte er Flugblätter über die Grenze, indem er nachts den Grenzfluss Saalach durchwatete: Nachts beim Durchwaten der Saalach, um Flugblätter der Partei nach Salzburg zu bringen, in den Kugelhagel von Grenzposten geraten. Ich konnte mich retten, aber die Flugblätter sind weg. Das gibt Ärger mit München. schreibt er im April 1934.

Schließlich flüchtet er aus Salzburg nach Deutschland und hält sich in den nächsten Jahren, das geht aus seinen Aufzeichnungen hervor, hauptsächlich in Kiel auf, bis er nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich 1938 nach Salzburg zurückkehrt. Im Juni 1938 schreibt er: Gestern die zehn Jahre jüngere Bauernmagd Johanna geheiratet. Weil man halt heiraten muss in meinem Alter.

Schon 1939, mit Kriegsbeginn, zieht es ihn wieder weg. Wohin und an wie viele verschiedene Orte, bleibt unklar, zu spärlich sind seine Aufzeichnungen. War er an der Front, oder im Binnendienst? Zweiteres ist anzunehmen, denn im Jahr 1942 schreibt er: Ich weiß nicht, ob es gut ist, dass ich so viele Leute umbringe. Ich wollte doch nur den Rupertiwinkel mit Salzburg wiedervereinen. Was mache ich hier in Buchenwald bei Weimar?

Ich habe Franz‘ Enkel Georg Hinterstoisser ausfindig gemacht, der im hessischen Eschwege, nahe der ehemaligen innerdeutschen Grenze lebt. Ich hoffte, durch ihn mehr über Franz Hinterstoissers Leben zu erfahren. Ich erfuhr von ihm, dass es früh endete: Er starb 1955 im Alter von 45 Jahren, man sagt, an Leberzirrhose. Georg schaute kurz betreten drein, um mich dann zu fragen, ob ich wisse, dass sein Großvater ein begnadeter Fußballspieler gewesen sei? Es heißt, er hätte in den 1930er-Jahren für die österreichische Nationalmannschaft spielen können, wollte es aber nicht. Und wie ich das sehe, fragte er weiter, ob er für die Österreicher hätte spielen sollen? Oder ob die Hinterstoissers eine deutsche Familie sind und er recht hatte, nicht für Österreich zu spielen?
Ich schwieg.
Er aber ließ nicht locker und meinte, kurze Zeit später sei es ohnehin egal gewesen. Er verstehe aber nicht, warum er dann, ab ’38, nicht für die Deutschen gespielt hat.
Ich vermute er hatte andere Sorgen, sagte ich, und reiste wieder ab aus Eschwege.

Über den Rupertiwinkel

Verloren in der Weite ihres Wiesengeschreites

Meine Fortbewegungsart ist zu Pferd. Doch sie bringt mich dazu, zu Fuß zu gehen. Das kann ich jetzt schreiben, doch nicht verstehen.

Nach unserem Gehen bleiben wir stehen vor der taunassen Wiese im Morgenschein. Sie macht einen Schritt in die Wiese. Ich mache ihn nicht. So löst sich ihre Hand von meiner. Ich schaue ihr nach, wie sie Schritt für Schritt schreitend die Wiese betritt. Ich traue meinen Augen nicht: Eine Wiese ist nicht zum Beschreiten. Nicht einmal zum Bereiten. Wozu gibt es denn Wege! In einer Wiese lauern Pflanzen und Insekten mit ihren giftigen Stacheln, lauern Löcher von Maulwürfen und Fallen und Spalten. Aber sie lässt sich nicht abhalten.

Ich beobachte sie, wie sie im wogenden Gras Schritt für Schritt die Wiese beschreitend betritt. Ich rufe den Lakai, der in pietätvollem Abstand verweilt, und ordne an, die Pferde mit den Reitern bringen zu lassen. Sofort läuft er davon, während ich ungeduldig warte und ab und zu zu ihr blicke, wo ich sehe, wie der Horizont sich weitet, weil sie immer weiter die Wiese beschreitet.

Endlich kommen die Reiter mit ihren Pferden und meinem. Als ich auf ihn steige, bäumt er sich auf. Er weigert sich, die Wiese zu betreten.
„Was hat er bloß? Ich kann mit ihm die Wiese nicht bereiten. Ihr müsst sie für mich vorbereiten!“ befehlige ich den Reitern. Da wollen sie losreiten, um für mich die Wiese vorzubereiten. Doch auch ihre Pferde bäumen sich auf. Immer wieder versuchen sie loszureiten, doch immer wieder bäumen die Pferde sich auf.
„Es ist zwecklos, Majestät!“ ruft schließlich der Vorreiter: „Wir können die Wiese mit den Pferden nicht vorbereiten. Sie bäumen sich dagegen auf.“

Wo ist sie? Seit die Reiter mit den Pferden angekommen, verlor ich sie in der Weite ihres Wiesengeschreites. Doch jetzt kommt sie, unvermutet, prägnant, durch die Wiese geschritten und sagt:
„Liebling, was willst du die Wiese so grob mit den Pferden bereiten? Eine Wiese muss man sanft mit den Füßen beschreiten.“

Welt Wer Worte