Hier seht ihr wie ein Mainzer fällt

Es war Sonntag, der 13. November 2022: ein Fußballspiel zwischen dem FSV Mainz 05 und Eintracht Frankfurt, dass ich, ich weiß nicht mehr warum, vor einem Fernsehschirm verfolgte. In der Schlussphase des Spiels fiel der Mainzer Spieler Jonathan „Jonny“ Burkardt, der das zwischenzeitliche Führungstor für seine Mannschaft erzielt hatte, nach einem Kampf um den Ball schmerzhaft zu Boden, und Kommentator Wolff-Christoph Fuss kommentierte die Wiederholung dieser Szene mit den Worten: Hier seht ihr wie ein Mainzer fällt.

Fuss hatte sich hiermit endgültig als der Poet unter den Fußballkommentatoren geoutet: Er hatte Dirk von Lowtzow von Tocotronic auf kreative Weise zitiert, denn von Lowtzow singt: Hier seht ihr wie ein Mann zerfällt.

Meine Welt geriet durcheinander, denn Fuss und von Lowtzow hatten bisher für mich in völlig getrennten Welten operiert. Diese Verschmelzung kam sehr überrasschend. Hat von Lowtzow den Fall Burkardts prophetisch vorhergesehen und das Lied genau für diesen 13. November 2022 geschrieben, für diesen Moment in der Schlussphase des Spiels, als der Mainzer Burkardt fällt? Singt er eigentlich ein Mainzer fällt und nicht ein Mann zerfällt?

Oder ist das viel zu romantisch gedacht? Bei meiner weiteren Online-Recherche fand ich heraus, dass Jonny Burkardt gar kein Mainzer, sondern in Darmstadt geboren und aufgewachsen ist, ehe er im Alter von vierzehn Jahren zum FSV Mainz 05 wechselte. Andererseits, Burkardt scheint inzwischen ein Mainzer zu sein, wurde doch über seine kürzliche Berufung in die deutsche Nationalmannschaft so berichtet: Bundestrainer Nagelsmann beruft Mainzer Burkardt.

Und ist es ausgeschlossen, dass Dirk von Lowtzow sich für Fußball interessiert, vielleicht sogar im speziellen für den FSV Mainz 05? Burkardt hatte sich bei seinem Fall schwer verletzt, er zog sich eine Kniegelenksdistorsion mit einem Knochmarködem zu. Hat von Lowtzow diesen schmerzhaften Moment prophetisch festgehalten, in seinem nicht enden wollenden Lamento am Ende des Lieds: Hier seht ihr wie ein Mainzer fällt.

Geherbste im Herbst

Im feinen Geäst verstummte das Gekrähe der Krähen, stattdessen vernahm ich das Gemeise der Meisen und das Gefinke der Finken. Die Finken waren Schmutzfinken, Schmutzfinken die stinken, ich verließ das Geäst, das finkige Gestinke, und befreite mich ins Freie, doch es war kein Gefreie im Freien, mehr ein Gewinde des Windes und ein Gestürme des Sturmes, und die Erde war kalt und gewürmt vom Gewürme des Wurmes. Ich suchte Schutz, das Geschütze des Schutzes, ich fand es im Geäst der Äste, das das Gewinde und Gestürme drosselte, und vernahm, trotz astigem Geäst, kein Gemeise, kein stinkiges Gefinke, sondern ein Gedrossel der Drosseln.

Ich setzte mich, um zu liegen

Sprache kann Wahrheiten zementieren. Sprache kann sich aber auch schwer tun, Wahrheiten auszusprechen.

Ich wollte einen Vorgang folgendermaßen beschreiben: Ich setzte mich, um zu sitzen. Doch die Ereignisse überschlugen sich derart, dass diese Beschreibung nicht mehr der Wahrheit entspricht und, um mich der Wahrheit wieder anzunähern, ich versuche, das Geschehene genauer zu beschreiben:

Ich stand mit dem Rücken zu einem Stuhl. Ich beugte meine Knie und meine Hüften, um mein Gesäß auf dem Stuhl niederzulassen. Ich betrieb also einen Vorgang, den man Sich Setzen nennt, um einen Zustand zu erreichen, den man Sitzen nennt.

Doch während meines Vorgangs des Sichsetzens wurde mir der Stuhl unter meinem Gesäß weggezogen, was ich nicht bemerkte, da es geräuschlos geschah und ich, den Kopf nach vorne gerichtet, mit meinen Menschenaugen nur nach vorne sah und nicht sah, was hinter mir geschah. Ich plumpste in der Folge zu Boden und kam in einem Zustand auf jenigem an, der nicht der des angestrebten Sitzens war. Mein erreichter Zustand war am ehesten mit dem des Liegens zu vergleichen.

Meine ursprüngliche Absicht, mich zu setzen, um zu sitzen, entsprach also nicht den Tatsachen. Wie soll ich nun die Tatsachen beschreiben, ohne allzu ausschweifend zu werden? Soll ich schreiben Ich setzte mich um zu liegen? Ich setzte mich ja keineswegs in der Absicht, um danach zu liegen. Vielleicht sollte ich aufhören, meinen Willen in meinem sprachlichen Ausdruck zu achten, denn mein Wille wurde ja von dem Mitmenschen, der mir den Stuhl unter dem Arsch wegzog, missachtet. Als willenloses Wesen entspricht es also den Tatsachen wenn ich sage: Ich legte mich um zu liegen. Doch ist das der Sinn der menschlichen Existenz, sich willenlos allem zu fügen was geschieht? Nein, denn ich wollte mich setzen, um zu sitzen, doch ein Mitmensch wollte, dass ich mich lege, um zu liegen.

Und so kann der sprachliche Kompromiss bei der zusammenfassenden Darstellung der Tatsachen doch nur lauten: Ich setzte mich, um zu liegen.

Jacques, ich habe alles erreicht!

ein Gastbeitrag von Georg Stürzer

Damals, im beschaulichen Alpenvorland an der Salzach Anfang der 1990er-Jahre, war das Fernsehen mein einziges Tor zur großen Welt. Ich sah ihn, wie er als fescher Fiesling allen zeigte, dass ihm alles egal ist. Ich sah ihn in einer Welt, von der ich glaubte, sie niemals erreichen zu können.

Vielleicht kam ich auch wegen ihm 2005 nach München, um der Welt näher zu sein, von der ich immer geträumt hatte. 2019, ich hatte ihn und meine jugendliche Schwärmerei für ihn fast schon vergessen, führte uns das Leben zusammen. Ich wurde für eine Bühnenadaption von George Orwells 1984 engagiert, in dem er die Hauptrolle spielen sollte.

Vor der ersten Probe stand ich mit der Kollegin und den Kollegen vor dem Proberaum. Wir warteten auf ihn. Gleich würde er um die Ecke biegen. Ich konnte es nicht fassen, ihn nun leibhaftig kennenzulernen. Ich konnte nicht glauben, dass ich nicht träümte.

Müde und ermattet schlich er daher, er kam direkt aus Hamburg vom En-Suite-Spielen. Aber in seinen Augen glänzte noch der jugendliche Schalk, wie damals Anfang der 1990er-Jahre. Die Proben gestalteten sich schwierig. Er brach auf der Probebühne leibhaftig zusammen, und ich war nahe dem nervlichen Zusammenbruch, weil ich als Spätberufener noch ein Anfänger war. Dann aber, in einem wahren Kraftakt, riss er das Stück an sich, und er riss mich mit. Er spielte den kränklichen Winston Smith, der nicht glauben kann, was um ihn geschieht, mit einer Brillanz, die Magie auf die Bühne brachte.

Einmal, während unserer Reisen durch Deutschland, Österreich und die Schweiz, fragte er mich:
Georg, was hast du eigentlich für Ziele?
Ich habe keine Ziele mehr, Jacques. Ich stehe mit dir auf der Bühne. Ich habe alles erreicht.
Wir mussten beide lachen und weinen, weil es so wahr war.

Es war tatsächlich seine letzte Theaterproduktion. Für eine geplante zweite Tournee mit ihm reichte seine Kraft nicht mehr. Am 5. September ist Jacques Breuer, wie erst vor zwei Tagen öffentlich bekanntgegeben wurde, in München gestorben.

Genesung

Singen, sang, gesungen, sagte sie, nein, sie sagte es nicht, sie sang es, weil sie alles singt, sagt sie, und sie wolle ein Vorbild sein für mehr Gesang, jedenfalls bezeichnet sie die Laute, die aus ihrer Kehle kommen, als Gesang, und während sie ihre gesanglichen Laute in die Welt schmetterte, fragte ich mich, ob Sung ein Synonym für Gesang ist, außerdem fragte ich mich, ob man statt Singsang auch Singsung sagen kann, in meine Überlegungen hinein sagte sie, nein, sang sie, dass der Gesang in ihren Genen liegt, und sie sei froh darüber, denn die Welt könne am Gesang genesen, wenn die Welt mehr sänge. Bis dahin singe sie, sangsagte sie, und ich war froh, bei der nächsten Station auszusteigen, es lag mir auf den Lippen, ihr gute Genesung zu wünschen, doch ehe diese Worte meine Lippen verließen, wurde mir klar, dass es richtiger war, ihr guten Gene-Sung zu wünschen.

Sei ein Mensch!

München, Israelisches Konsulat, Barerstraße, kurz nach 9 Uhr heute Morgen: Der junge Mann läuft verwirrt umher und schießt ziellos umher.

Heute sehe ich ihn wieder: meinen Nazi-Großvater, wie er verwirrt umherläuft und ziellos umherschießt. Ziellos, weil er glaubt, wenn er andere trifft, trifft er sich selbst nicht. Die Vermeidung der Selbstbetroffenheit, denn die Wunde ist zu groß, um angeschaut zu werden. Deshalb klafft sie immer wieder auf.

Doch es muss doch das Ziel unseres Menschseins sein, diese Wunde anzuschauen und zu versorgen. Sei kein Islamist, sei kein Semitist, sei kein Germanist. Flüchte dich nicht, triff dich selbst.

Sei betroffen! SEI EIN MENSCH!

 

 

 

Automaten (und sonstiges preussisches Geschwätz)

Die Umstände, die mich nach Mainz führten, können hier nicht näher erörtert werden. Wichtig ist jedoch, dass ich mich, als ich in Mainz war, an einen Bekannten erinnerte, der in der Nähe von Mainz, auf dem Gebiet einer ehemaligen, jetzt trockengelegten Aulandschaft, Tomaten züchtet und anbaut. Er nennt sein Produkt Automaten und findet das sehr lustig und originell. Ich finde es: naja – hat nicht Willy Astor schon über Au-Tomaten referiert? Und wie sagt Astor über sich selbst so richtig: Wortspiele sind rein mein Gebiet.

Das bringt mich zurück nach Mainz, wo der Main in den Rhein fließt, sozusagen ins Herz des Rhein-Main-Gebiets. In Mainz jedenfalls klingelte mein Mobiltelefon, und wie es der Plot dieser Geschichte wollte, war es mein Bekannter, der Tomatenzüchter aus Mainz, der mich anrief. Ich zögerte, ans Telefon zu gehen, war ich doch nach Mainz gekommen – so viel kann ich sagen -, um allein zu sein, oder zumindest, um niemanden zu treffen. Doch das Telefon klingelte und vibrierte mit ausdauernder Penetranz, sodass ich dran ging.
„Na, mein Freund!“ erschallte sofort die Stimme meines Bekannten: „In welchem Gebiet treibst du dich gerade herum?“
„Wie kommst du darauf?“ fragte ich mit einer Mischung aus Verunsicherung und Ablehnung.
„Wie komme ich worauf?“
„Mich zu fragen, in welchem Gebiet ich mich gerade rumtreibe!“
Er lachte lautstark, um ohne Pause mit seinen Ausführungen fortzufahren:
„Ich bin gerade in Österreich, Urlaub im Salzburger Land. Und fast jeder Einheimische, mit dem ich ein Gespräch beginne, sagt nach kurzer Zeit: Gebiete! Ich habe keine Ahnung, was sie damit meinen. Aber um das Gespräch nicht ins Stocken zu bringen, rede ich einfach weiter. Die meisten winken dann ab und entfernen sich wortlos von mir. Was ist bloß los mit diesen Leuten? Und was meinen sie mit Gebiete?

Kurz überlegte ich, ebenfalls abzuwinken und das Gespräch wortlos zu beenden, doch ehe ich mich dazu entschließen konnte, redete er weiter:
„Ich habe an dich gedacht, der du als Bayer ein halber Österreicher bist. Kannst du mir weiterhelfen?“
Ich atmete tief durch, dann entgegnete ich:
„Sie sagen nicht Gebiete!, sondern Geh bitte!
„Nein, ganz bestimmt nicht: Sie sagen Gebiete, das I sprechen sie sehr lang.“ protestierte er vehement.
„Das machen die Österreicher gerne: Vokale lang sprechen. Und wahrscheinlich sagen sie Geh bitte! nicht im wörtlichen Sinn zu dir, sondern eher im Sinne von Nicht schon wieder du, lass mich in Ruh! Wahrscheinlich bist du mit deinem preussischen Geschwätz schon ortsbekannt.“

Jetzt war Ruhe in der Leitung, und für einen Moment tat es mir leid, ihn verbal so scharf angegangen zu haben. Vor allem mit der Bezeichnung seines Geredes als preussisches Geschwätz hatte ich einen wunden Punkt berührt, war doch seine Familie über Jahrhunderte in Ostpreussen ansässig gewesen, bis sie nach dem Krieg von den Russen vertrieben wurde.
„Aber ich will nur lustig sein, da die Österreicher doch ein so lustiges Volk sind!“ sagte er, um Rechtfertigung ringend.
„Die Österreicher sind lustig, weil sie nicht lustig sein wollen. Und du bist nicht lustig, weil du lustig sein willst. Erzwungene Lustigkeit wie beim Karneval, wo dreimal die Fanfare erklingt, damit jeder weiß, dass er lachen muss, ist dem Österreicher fremd.“
„Komisches Volk!“ murmelte er in sich hinein: „Naja, so lange bin ich ja nicht mehr hier.“ Er sammelte sich und fragte: „Wann kommst du mal wieder nach Mainz?“
„In nächster Zeit eher nicht“, sagte ich: „Du weißt ja – Rhein-Main – das ist nicht so mein Gebiet.“

Der Platz in der Welt

Meinen Platz einzunehmen, das ist eine Sache, für die ich lange nicht mutig genug war, denn man sagte mir, dass jemand sich beschweren könnte, dass ich ihn unberechtigterweise oder falsch einnehme, also sei es besser, ihn gar nicht einzunehmen.

Doch das nur nebenbei, sagt Vorderbrandner, denn ich erzähle das nur, weil mir auffällt, dass mein Neffe – der mittlerweile einundzwanzig Jahre alt ist – seit der Corona-Zeit seiner Umwelt Probleme bereitet, indem er dauernd einen Platz einnimmt, der nicht seiner ist. Er geht herum mit Kopfhörern in den Ohren, Bierflasche in der einen und Kippe in der anderen Hand. Er geht dabei relativ gerade und statisch, doch manchmal holt er, wenn er Musik hört, die ihm gefällt, mit den Armen aus, dieses Ausholen ist für seine ihn umgebenden Mitmenschen, die die Musik nicht hören, schwer vorauszuahnen. So hat er bei einer dieser Ausholbewegungen vor kurzem einen Fahrradfahrer, der ihn gerade überholen wollte, voll im Gesicht erwischt. Der Radfahrer fiel dabei vom Fahrrad, was mein Neffe aber nicht bemerkte. Der Radfahrer richtete sich auf, fuhr ihm nach und wollte ihn zur Rede stellen, woraufhin mein Neffe widerwillig die Kopfhörer abnahm und meinte: Chill mal, Alter!

Ncoh häufiger passiert es aber, dass er, wenn er keine Kippe oder keine Bierflasche in der Hand, also eine Hand frei hat, sein mobiles Endgerät zückt, auf seinen Bildschirm starrt und dabei mitten auf einem belebten Platz stehenbleibt. Er schafft es dabei, allen Vorbeikommenden im Weg zu stehen. Neulich war ich einer der Vorbeikommenden. Ich stellte ihn zu Rede und sagte: Achte doch auf deine Umwelt! Du stehst total im Weg!

Da antwortete er mir: Es ist wichtig, Onkel Valentin, seinen Platz in der Welt einzunehmen. Das solltest du doch wissen!

Was wir heute sind

Nachts hatte ich geträumt, dass ich sterbe und es nicht geschafft habe, davor mein Leben zu leben. Dass ich wie ein Schatten vergehe, vom Schicksal geworfen, ohne etwas Eigenes, Selbständiges, gewesen zu sein.

Morgens, im Bett liegend, im Zustand des Erwachens, die Sonne leuchtete hell ins Zimmer, glaubte ich dann, ich selbst zu sein. Mein Leben schien in diesem Moment zusammenzulaufen. Alles lag klar vor mir, und ich glaubte zu wissen, wer ich bin.

Du erwachtest neben mir, und bevor du die Augen richtig geöffnet hattest, mehr im Halbschlaf murmelnd als mit klarer Stimme, sagtest du:
Schatten werfen keine Schatten.
Es wäre übertrieben, zu sagen, dass ich über deine Worte erschrak. Aber sie prägten sich ein wie ein erster Gruß am Morgen. Mein Gehirn sprang an und ich wollte dich fragen:
Warum sagst du das?, doch ehe ich es sagen konnte, risst du unsere Decken zur Seite und legtest dich auf mich.

Engumschlungen spürten wir uns. Ich schwebte mit dir kurvenreich über eine blumenreiche Sommerwiese, wie im schwindeligen Rausch, und wir landeten an einer Stelle, wo wir noch nie waren. Ich sah Tränen in deinen Augen und merkte, wie sie auch aus meinen flossen. Dummerweise wollte ich dich fragen, warum du weinst, obwohl ich auch weinte und genau wusste, warum du weinst, warum wir weinen, doch ehe ich dich fragen konnte, sagtest du:
Ich habe geträumt, dass wir nichts sind. Dass wir nur Schatten von anderen sind, ohne jemals wir selbst zu sein.

Aber wir sind doch wir selbst, jetzt, hier, sagte ich, ohne mir überlegt zu haben, dass ich das sagen wollte. In unsere Tränen mischte sich ein Lachen.
Stimmt, sagtest du, wahrscheinlich sind wir wir selbst, weil wir glauben, nicht wir selbst zu sein.

Welt Wer Worte