Als Kind, sagt Vorderbrandner, spürte ich große Unordnung in mir. Deshalb wollte ich Ordnung schaffen und liebte es, Tabellen zu erstellen. Vor kurzem, beim Durchsehen meiner Reliquien, entdeckte ich meine Jahreszeitentabelle. Darin gliedere ich das Jahr in Jahreszeiten, und den Jahreszeiten ordne ich Monate zu. Ich beginne das Jahr wie die alten Römer mit dem März und ende es mit dem Februar. März, April, Mai – der Frühling, unterteilt in Frühfrühling (März), Hochfrühling (April) und Spätfrühling (Mai). Diese Systematik setze ich im Sommer, Herbst und Winter fort. Den Juli nannte ich übrigens Quintilis, den Fünften, wie er bei den alten Römern hieß, als fünfter Monat vom März an gerechnet, und den August Sexitilis, den Sechsten. Erst später nannten die Römer diese beiden Monate Juli und August zu Ehren der Kaiser Julius Cäsar und Augustus. Ich war sehr zufrieden mit meiner Tabelle, und besonders stolz auf die neuen Wortschöpfungen Frühfrühling und Hochherbst.
So erlebte ich die Jahreszeiten in strukturierter Weise, und wenn sich die Unordnung in mir regte, die sich in Form von starken emotionalen Ausschlägen äußerte, konnte ich mich an dieser Struktur festhalten, an dieser zeitlichen Struktur, die meine emotionalen Ausschläge vorüberziehen ließ.
Ich erinnere mich an einen der letzten lauen Abende im Spätsommer, ich war wohl acht oder neun Jahre alt. Meine Eltern waren ausgegangen, meine Schwester war auch nicht zu Hause. So bringt mich meine Großmutter ins Bett. Um punkt neun macht sie das Licht aus, obwohl es draußen noch gar nicht dunkel ist. Sie geht aus dem Zimmer und lässt mich alleine. Ich weiß: Sie wird nicht wieder ins Zimmer kommen und schauen ob ich schlafe, sondern sich selbst hinlegen. Ich warte ein paar Minuten und schleiche leise aus dem Zimmer in den Gang, von dort die Treppen hinunter und ins Freie. Ich bin aufgeregt, die Dämmerung zu erleben. Vorsichtig gehe ich Richtung Wald, bei jeder Hecke Schutz suchend, damit mich niemand entdeckt. Im Wald ist es ruhig, selbst die Vögel singen um diese Jahreszeit kein Abendlied mehr. Ich setze mich auf ein Moosbett und schaue andächtig zu den Kronen der mächtigen Bäume hoch: So ist also der Sommer im Wald, in der Dämmerung.
Als die Dämmerung kurz davor ist, der dunklen Nacht Platz zu machen, wird es merklich kühler. Ich beginne leicht zu zittern in meinem Knabenkörper, der nur in einem dünnen Schlafanzug steckt. Außerdem spüre ich die Unordnung in mir hochsteigen. Führt das Erlebnis der Jahreszeiten in der Natur nicht in die geordnete Struktur, sondern ins Chaos? Ich renne so schnell ich kann nachhause, und als ich mein Zimmer erreicht habe, fühle ich mich in Sicherheit. Aber die Sicherheit ist trügerisch: Die Unordnung in mir ist nicht verschwunden. Sie kommt noch intensiver hoch, mit Tränen in den Augen. Soll ich wieder in den Wald laufen?
Panisch greife ich zu einer CD mit einer Aufnahme von Vivaldis Vier Jahreszeiten, die ich vor ein paar Tagen vom Regal meiner Eltern genommen habe, in der Absicht, meiner jahreszeitlich strukturierten Ordnung ein musikalisches Fundament zu geben.
Die Aufnahme beginnt mit dem Winter. Ich bin zu erstarrt, um den Player zu bedienen und den Sommer abzuspielen. In mir ist Winter, und ich bin froh und erleichtert, dass die Musik in meine emotionale Unordnung kommt. Sie wirbelt die Unordnung einerseits auf, machte sie andererseits aber auch aushaltbar. Sie trägt mich durch sie. Draußen ist Sommer und in mir ist Winter. Die Kälte, die Starre. Ich krieche unter meine Decke und bin froh, der Kälte entronnen zu sein. Vielleicht bringt die Geborgenheit der Nacht sogar Wärme in mich.