Inselmoment

Der Film Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent von François Truffaut ist viel zu dramatisch. Er gilt als einer von Truffauts schlechtesten, wenn nicht sogar als sein schlechtester Film. Unerreichbare Liebe in unerträglicher Traurigkeit wird geboten. Immer wieder ertappe ich mich dabei, Teile des Films anzuschauen, vor allem jene, die mit Musik von Georges Delerue unterlegt sind, mit schwülstiger Musik, die noch tiefer in das Drama der Bilder führt.

Warum zieht mich dieser Film so in seinen Bann?

Als ich zwei Jahre alt war, war mein Leben auch viel zu dramatisch. Ich nenne ihn den Inselmoment meines Lebens, als man mich – medizinisch begründet – zwei Wochen lang von der Außenwelt isolierte. Zu schwer sei die Infektion meiner Verdauungswege, nur so könne man vermeiden, dass sich andere infizieren.

Da lag ich zweijähriger, die Eltern winkten ab und zu durch eine Scheibe, ich glaube mehr die Mutter, der Vater hat die Situation wohl nicht ertragen und ist zuhause geblieben, ich erwartete den Tod, denn ich glaube nicht, dass das, was ich erlebte, mir wie Leben erschien.

Den Inselmoment in Truffauts dramatischem Film mag ich am liebsten: Anne und Claude wohnen auf einer kleinen Insel in einem See, auf der Insel La Motte im Lac d’Illay, und lieben sich. Das Alleinsein des Mannes hat ein Ende, eine Frau steht ihm nahe. Ich spüre die Wärme Annes, die Wärme ihrer Weiblichkeit, die den Moment durchflutet.

Ich weine jedes Mal, wenn ich die Bilder dieses Moments sehe, musikalisch unterlegt mit dem Stück Une petite île von Delerue. Ich habe panische Angst, dass dieses Glück zu Ende geht. Dass Anne Claude verlassen wird, dass sie ihn alleine zurücklässt auf der Insel. Und sie verlässt ihn ja auch später im Film, so wie meine Mutter nicht zu mir kam, sondern von der Scheibe entschwand und mich allein zurückließ, allein mit der Musk die sie mir vorspielten.

Die Musik ließen sie mir als einzigen Strohhalm zum Leben, und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie mir Delerues Une petite île vorspielten.

Epilog
Als mein Inselmoment von zwei Wochen Dauer vorbei war und ich nachhause kam, verweigerte ich jeden Kontakt mit meinen Eltern. Ich hatte überlebt, aber meine Liebe war gebrochen. Meine Angst war zu groß, wieder verlassen zu werden.

Geh vorsichtig!

Vorsicht ist beim Vorwärtsbewegen eine Voraussetzung für sicheres Vorankommen. So wie Rücksicht beim Rückwärtsbewegen. Ich erwähne das nicht nur, weil wir Menschen die Augen vorne am Kopf tragen und die Vorsicht unsere natürliche Sicht ist, sondern weil ich jemanden, obwohl er ein Mensch ist, zur Vorsicht ermahnen musste.

Ein dynamisches Szenario im Straßenverkehr, viel zu komplex eigentlich, um es in starre Worte zu fassen. Eine städtische Kreuzung, an jeder Ecke von Häusern gesäumt, ständig von Menschen zu Fuß, auf dem Fahrrad, auf dem E-Roller oder im Auto durchquert. Ich komme von Norden mit dem Fahrrad, um nach rechts, nach Westen, abzubiegen, ein relativ unkritisches Manöver. Ich durchquere die Kreuzung nicht, ich überquere nicht einmal die Straße, ich schleiche nur am nordwestlichen Rand entlang. Eine kurze Rücksicht, um wegen eventuell straßenquerender Fußgänger anzuhalten, eine kurze Seitsicht nach links, um nicht mit Nichtachtenden von links zu kollidieren, und bei dieser Seitsicht das unerwartete Szenario vor mir: Ein rücksichtiger Fußgänger überquert vorwärtsgehend die Straße von Süd nach Nord, er läuft mir direkt ins Fahrrad ohne es zu sehen, weil er rückwärts schaut. Er schaut zu einem stehenden Auto, das auf der anderen Straßenseite in zweiter Reihe steht, an dessen Steuer eine Person sitzt. Von diesem Auto geht er gerade weg und ruft der Person am Steuer zu: Fahr vorsichtig!, währenddessen er mir rücksichtig ins Fahrrad läuft. Ich bremse und rufe ihm sponan zu: Geh vorsichtig!, woraufhin er den Kopf dreht und vorsichtig – nicht geht, sondern steht.

Was lernen wir daraus: Rate Niemandem, vorsichtig zu sein, wenn du selbst rücksichtig bist. Mann könnte ergänzen, dass man bei Rücksicht Vorsicht walten lassen sollte, denn von uns Menschen wird aufgrund unserer Anatomie der vorwärtsgerichteten Augen erwartet, dass wir uns vorsichtig und nicht rücksichtig bewegen.

Königin Lara

Es lebte einst eine junge Frau in einer Hütte am Waldrand. Als der König mit seiner Jagdgesellschaft an ihrer Hütte vorbeiritt, gefiel sie ihm sehr. Er hielt an und fragte sie: Willst du meine Frau werden?
Ich weiß nicht, antwortete die junge Frau.
Eine Unverschämtheit, diese Antwort! rief der König und ließ in das Horn blasen, um mit seiner Gesellschaft weiterzureiten.

Als er das nächste Mal an der Hütte vorbeiritt, wollte der König nicht anhalten, doch die junge Frau gefiel ihm wieder so gut, dass er nicht anders konnte als anzuhalten.
Nun, sagte der König vorsichtig, hast du über meine Frage nachgedacht?
Über welche Frage? fragte die junge Frau.
Dem König fuhr es kalt über den Rücken ob dieser Missachtung seiner Würde, und nach einer Pause sagte er:
Ob du meine Frau werden willst!
Ach so, sagte die junge Frau, das meinst du. Ich weiß nicht recht – mir gefällt es sehr gut hier in meiner Hütte.
Da schaute der König entgeistert nach vor, spannte seine Zügel und ritt mit seiner Gesellschaft davon.

Ihm war nicht nach Jagen, und so ritt er mit seiner Gesellschaft bedächtig übers Land.
Umbringen werd ich sie, diese unverschämte Weib, umbringen. Verbrennen lass ich sie, auf dem Scheiterhaufen.
Doch er tat es nicht.

Als er das nächste Mal an ihrer Hütte vorbeiritt, war er voller Zorn, doch als er sie sah, gefiel sie ihm wieder so gut, dass er erneut fragte:
Willst du nicht doch meine Frau werden?
Na gut, sagte die junge Frau, wenn du so darauf bestehst.
Dann komm mit mir an meinen Hof! rief der König begeistert aus.
Muss ich das?
Der König schwieg, sein Gesicht wurde bleich vor Entsetzen. Was bildete dieses Weibsbild sich ein!
Ich kann doch auch deine Frau werden und hier in meiner Hütte bleiben, meinte die junge Frau.
Der König war außer sich vor Zorn, doch sie gefiel ihm so gut, dass er seinen Zorn in Zaum hielt und fragte:
Wie soll das gehen? Wie sollen wir uns dann sehen?
Indem du mich besuchst, so wie jetzt.

So besuchte der König die junge Frau in ihrer Hütte und machte sie zu seiner Frau.
Wie heißt du eigentlich, meine Frau? fragte der König nach der Trauung.
Lara.
Lara! Ab jetzt bist du Königin Lara!
Kann ich nicht einfach Lara bleiben?
Der König senkte den Kopf und vergrub ihn in seiner Hand.
Wenn du willst, nenne ich mich ab sofort Klara, das K vorneweg für Königin. Aber Königin werde ich mich nicht nennen, das passt nicht zu mir, sagte Lara.
Der König hob seinen Kopf und schaute sie an. Sie gefiel ihm so gut, dass er einwilligte. So nannte Lara sich nun Klara.

Das Blut an meinen Händen

Der Moment als wir uns berührten, ich spüre ihn mit jeder Faser meines Körpers. Ich strich mit meinen Fingern durch deine Haare, dann machte ich, zu meiner großen Überraschung, dein rechtes Ohr frei und beknabberte es mit meinem Mund. Mich durchzuckte es am ganzen Körper, du zittertest und ließt einen unkontrollierten Schrei von dir. Meine Leitungen von und zu meinem Herz waren offen, deine Leitungen von und zu deinem Herz waren offen. Alles strömte von dir zu mir und von mir zu dir.

Ich war tief beeindruckt. Gleichzeitig war ich tief erschrocken. Ich wankte durch meine starken Gefühle, die dieser Moment in mir geweckt hatte. Um mein Wanken, das sich bedrohlich anfühlte, kontrollieren zu können, redete ich mir ein, dass du genauso tief beeindruckt sein musst, wenn nicht sogar tiefer. Gleichzeitig redete ich mir ein, dass du genauso tief erschrocken sein musst wie ich, wenn nicht sogar tiefer. Dass du deshalb dein Herz verschließt, um zukünftige Momente zwischen uns beiden zu verhindern.

Ich selbst kam dabei ins seichte Wasser. Jegliche Tiefe des Moments ging verloren. Ich kontrollierte meine Gefühle, verschloss dabei aber, ohne es zu bemerken, mein Herz. Mein verschlossenes Herz wurde traurig und tat mir weh, doch um den Schmerz zu betäuben wurde ich zornig, ich glaubte, das Recht zu haben, auf dich zornig zu sein: DU hast dein Herz verschlossen, DU verhinderst das Fließen der Liebe zwischen uns.

In einem Moment des Jähzorns ging ich auf dich los und stach tief in dein Herz. Das Blut an meinen Händen, es war von dir. Ich habe es nicht selbst vergossen, ich war zu feige, zu verdrossen, ich brauchte dich dafür:

Der Moment als wir uns berührten, ich spüre in mit jeder Faser meines Körpers. Ich kann mir mein Leben nicht mehr vorstellen ohne diesen Moment. Ich fabulierte viele Worte, um diesen Moment festzuhalten, bis ich spürte, dass ich mich an die vielen Worte klammere, weil ich zu gierig und feige bin um loszulassen.

Das ist deine Geschichte, die ich niemals schreiben kann. Alles was ich weiß, weiß ich von dir. Gestern träumte ich, dass wir fliegen, durch den weiten Himmel. Ich glaube unsere Herzen waren offen.

Leidenskultur

Unsere Kultur leidet gerne, sagt Vorderbrandner, Leben muss Leiden sein, Leiden ist erträglicher als Selbsterkennen. Jean-Luc Godard war ein genialer Leidender, ein genialer Bewahrer unserer Kultur:

Krank in Kallstadt

Vorderbrandner, dessen Aufenthaltsort mir seit einiger Zeit unbekannt gewesen war, hat mir vor einigen Tagen eine Nachricht übermittelt, in der er schreibt, er sei im Exil, er schreibt, er sei ein heterosexueller weißer Mann und fühle sich unwohl in seiner bleichen Haut, er fühle sich einer Minderheit angehörig, die von der Gesellschaft nicht mehr akzeptiert werde, einer Minderheit, die über die Jahrhunderte großen Schaden angerichtet habe und die für diesen Schaden, den sie angerichtet hat, nun büßen muss.

Außerdem stellt er in seinem Exil gerade fest, dass er sich zum Weiblichen extrem hingezogen fühle, nicht weil er ein schlechter Mann sein wolle, sondern weil er das Weibliche verehre, er sei eben ein heterosexueller Mann, und durch sein Testosteron könne er das Weibliche von Weitem riechen, er müsse ihm nachgehen, davon halte ihn auch das Exil nicht ab, das Exil, für das er die Pfalz gewählt habe, er wisse nicht warum, er sei einfach in die Pfalz gefahren und halte sich im Moment in der Nähe von Bad Dürkheim auf, in einer Ortschaft namens Kallstadt, und erst als er in Kallstadt angekommen sei habe er von einer lokal ansässigen Frau, die er erspürt habe, erfahren, dass hier der Großvater und die Großmutter von Donald Trump geboren seien, von Donald Trump, der auch meiner Spezies angehört, der Spezies des weißen heterosexuellen Mannes, die großen Schaden angerichtet habe, ich weiß nicht wieso ich genau in Kallstadt gelandet bin, aber ich bin nun mal in Kallstadt und werde hier bis auf Weiteres bleiben, schreibt Vorderbrandner, ich habe ein Lied gefunden, das zu meiner Situation passt, schreibt er weiter, und ich tanze ekstatisch zu seinem Rhythmus, bis ich mich selbst wieder gefunden habe, ich mich nicht mehr krank fühle und meine Existenz soweit akzeptieren kann, dass ich mich als Minderheit in die Gesellschaft da draußen wieder eingliedern kann:

Welt Wer Worte