Idlewild – lethargisch, untätig

Manchmal überkommt mich eine Traurigkeit, eine tiefe tiefe Traurigkeit, wenn ich die Leere spüre, die wir durch unser lethargisches Untätigsein verursachen.

Wir verstecken uns hinter unseren Vorstellungen, um die Realität zu verhindern. Wir klammern uns an unsere Vorstellungen, um den Schmerz zu verhindern, den wir glauben, nicht ertragen zu können.

Manchmal traue ich mich, dir in die Augen zu schauen. Ich sehe das Feuer, das in dir brennt. Du wendest dich ab von mir, um dich abzukühlen, um das Feuer zu kontrollieren und dich ihm nicht hinzugeben.

Ich wende mich auch ab von dir, ich verschließe meine Augen, um meinen Glauben zu verstärken, aus diesem Alptraum nie aufwachen zu können. Aus diesem Alptraum, dein Feuer zu spüren, aber nie in seiner Wärme aufgehen zu können.

Wie viel Leid müssen wir noch erfahren, um unsere Masken endlich fallenzulassen?

Die Welt wird uns nie sehen, wenn wir nicht die Augen öffnen.
The world will never see you
till you open your eyes.
Idlewild.

Franz Hinterstoisser

Einer der Brüder meines Großvaters, Franz Hinterstoisser war sein Name, soll ein begnadeter Fußballspieler gewesen sein. So begnadet, dass später ein gewisser Franz Beckenbauer nach ihm benannt worden sein soll. So wurde es in meiner Kindheit erzählt. Sonst wurde über Franz Hinterstoisser wenig erzählt.

Die Legende, dass Beckenbauer nach ihm benannt ist, ist natürlich kompletter Schwachsinn, das war mir schon früh klar. Aber wieso wurde sie dauernd erzählt? Ich begann, über Franz Hinterstoisser im Familienarchiv zu recherchieren und fand heraus, dass er ein politischer Fanatiker war. Schon früh zog er aus dem bäuerlichen Elternhaus aus, das an den Hängen des Stoißbergs über dem Dorf Anger, im bayrischen Landkreis Berchtesgadener Land gelegen war, ins zwanzig Kilometer entfernte, österreichische Salzburg. In seinen Aufzeichnungen schreibt er, dass die Hinterstoissers seit Jahrhunderten eine Salzburger Familie seien, und er wolle im Zentrum des Hinterstoisserschen Universums leben, in der Stadt Salzburg, der Hauptstadt des Landes Salzburg. Er schreibt weiter, dass man es nicht hinnehmen könne, dass Bayern zuerst das Land Salzburg unter Besitz genommen, dann aber 1816 an Österreich abgetreten hat, dabei aber die linkssaalachischen und die linkssalzachischen Gebiete, den sogenannten Rupertiwinkel, das Stammland der Hinterstoissers, behalten habe und damit die Hinterstoissers von ihrer Hauptstadt Salzburg abgetrennt habe. Seitdem seien die Hinterstoissers zerrissen: Ihre Keimzelle am Stoißberg bei Anger wurde bayrisch, während ihre Hauptstadt Salzburg österreichisch wurde. Ein unerträglicher Zustand, der nun schon seit über hundert Jahren andauere, so schließt Franz seinen Eintrag aus dem Jahr 1931.

Ob und wo Franz in Salzburg seinen begnadeten Fußball spielte, konnte ich nirgends herausfinden. Ich erfuhr aus seinen Aufzeichnungen, dass er in den Untergrund ging und für den Anschluss Österreichs an Deutschland kämpfte: Wenn der Rupertiwinkel nicht mit Salzburg wiedervereint werden kann, so muss man eben größer denken, und Österreich mit Deutschland vereinen, schreibt er im Jahr 1932, und weiter: Schließlich hat sich auch Bayern von Preussen vereinnahmen lassen. Da sollte man mit Österreich, diesem südöstlichen Rumpfgebiet des deutschen Sprachraums, gleiches tun.

Für die NSDAP, die in Österreich ab 1933 verboten war, schmuggelte er Flugblätter über die Grenze, indem er nachts den Grenzfluss Saalach durchwatete: Nachts beim Durchwaten der Saalach, um Flugblätter der Partei nach Salzburg zu bringen, in den Kugelhagel von Grenzposten geraten. Ich konnte mich retten, aber die Flugblätter sind weg. Das gibt Ärger mit München. schreibt er im April 1934.

Schließlich flüchtet er aus Salzburg nach Deutschland und hält sich in den nächsten Jahren, das geht aus seinen Aufzeichnungen hervor, hauptsächlich in Kiel auf, bis er nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich 1938 nach Salzburg zurückkehrt. Im Juni 1938 schreibt er: Gestern die zehn Jahre jüngere Bauernmagd Johanna geheiratet. Weil man halt heiraten muss in meinem Alter.

Schon 1939, mit Kriegsbeginn, zieht es ihn wieder weg. Wohin und an wie viele verschiedene Orte, bleibt unklar, zu spärlich sind seine Aufzeichnungen. War er an der Front, oder im Binnendienst? Zweiteres ist anzunehmen, denn im Jahr 1942 schreibt er: Ich weiß nicht, ob es gut ist, dass ich so viele Leute umbringe. Ich wollte doch nur den Rupertiwinkel mit Salzburg wiedervereinen. Was mache ich hier in Buchenwald bei Weimar?

Ich habe Franz‘ Enkel Georg Hinterstoisser ausfindig gemacht, der im hessischen Eschwege, nahe der ehemaligen innerdeutschen Grenze lebt. Ich hoffte, durch ihn mehr über Franz Hinterstoissers Leben zu erfahren. Ich erfuhr von ihm, dass es früh endete: Er starb 1955 im Alter von 45 Jahren, man sagt, an Leberzirrhose. Georg schaute kurz betreten drein, um mich dann zu fragen, ob ich wisse, dass sein Großvater ein begnadeter Fußballspieler gewesen sei? Es heißt, er hätte in den 1930er-Jahren für die österreichische Nationalmannschaft spielen können, wollte es aber nicht. Und wie ich das sehe, fragte er weiter, ob er für die Österreicher hätte spielen sollen? Oder ob die Hinterstoissers eine deutsche Familie sind und er recht hatte, nicht für Österreich zu spielen?
Ich schwieg.
Er aber ließ nicht locker und meinte, kurze Zeit später sei es ohnehin egal gewesen. Er verstehe aber nicht, warum er dann, ab ’38, nicht für die Deutschen gespielt hat.
Ich vermute er hatte andere Sorgen, sagte ich, und reiste wieder ab aus Eschwege.

Über den Rupertiwinkel

Verloren in der Weite ihres Wiesengeschreites

Meine Fortbewegungsart ist zu Pferd. Doch sie bringt mich dazu, zu Fuß zu gehen. Das kann ich jetzt schreiben, doch nicht verstehen.

Nach unserem Gehen bleiben wir stehen vor der taunassen Wiese im Morgenschein. Sie macht einen Schritt in die Wiese. Ich mache ihn nicht. So löst sich ihre Hand von meiner. Ich schaue ihr nach, wie sie Schritt für Schritt schreitend die Wiese betritt. Ich traue meinen Augen nicht: Eine Wiese ist nicht zum Beschreiten. Nicht einmal zum Bereiten. Wozu gibt es denn Wege! In einer Wiese lauern Pflanzen und Insekten mit ihren giftigen Stacheln, lauern Löcher von Maulwürfen und Fallen und Spalten. Aber sie lässt sich nicht abhalten.

Ich beobachte sie, wie sie im wogenden Gras Schritt für Schritt die Wiese beschreitend betritt. Ich rufe den Lakai, der in pietätvollem Abstand verweilt, und ordne an, die Pferde mit den Reitern bringen zu lassen. Sofort läuft er davon, während ich ungeduldig warte und ab und zu zu ihr blicke, wo ich sehe, wie der Horizont sich weitet, weil sie immer weiter die Wiese beschreitet.

Endlich kommen die Reiter mit ihren Pferden und meinem. Als ich auf ihn steige, bäumt er sich auf. Er weigert sich, die Wiese zu betreten.
„Was hat er bloß? Ich kann mit ihm die Wiese nicht bereiten. Ihr müsst sie für mich vorbereiten!“ befehlige ich den Reitern. Da wollen sie losreiten, um für mich die Wiese vorzubereiten. Doch auch ihre Pferde bäumen sich auf. Immer wieder versuchen sie loszureiten, doch immer wieder bäumen die Pferde sich auf.
„Es ist zwecklos, Majestät!“ ruft schließlich der Vorreiter: „Wir können die Wiese mit den Pferden nicht vorbereiten. Sie bäumen sich dagegen auf.“

Wo ist sie? Seit die Reiter mit den Pferden angekommen, verlor ich sie in der Weite ihres Wiesengeschreites. Doch jetzt kommt sie, unvermutet, prägnant, durch die Wiese geschritten und sagt:
„Liebling, was willst du die Wiese so grob mit den Pferden bereiten? Eine Wiese muss man sanft mit den Füßen beschreiten.“

Digitales Paarungsritual

Sie müssen auf einer Dating-Plattform von einander Notiz genommen haben, denn ihre Köpfe waren vollgestopft mit Parametern, die sie aneinander abklopften. Sie waren im digitalen Modus und verhielten sich entsprechend der Parameter, die die Plattform ihnen vorgegeben hatte, obwohl sie leibhaftig, in ihrem Fleisch und Blut, den Weg entlangkamen. Sie machten auf locker, doch sie wirkten auf mich wie zwei steife Stecken, die sich jeweils an der Bierflasche in ihrer Hand festklammern, um den Halt in der analogen Welt, in die sie sich vorgewagt hatten, nicht zu verlieren.

Als sie näherkamen, konnte ich sie reden hören.
„Ach, du kochst?“ fragte sie.
„Ja“, sagte er, „ja, ja, ich koche schon leckere Sachen.“
„Und was kochst du so?“
„Naja, also, ich bevorzuge eher die einfache Küche.“
„?“
„Also, ich ernähre mich jetzt nicht strikt vegan oder vegetarisch, aber es muss schon gesund sein… zum Beispiel eine Aubergine…“
Es klang, als hatte er sich vorgenommen, die Fertigpizza aus dem Gefrierfach auf keinen Fall zu erwähnen.
„?“

„Oh guck mal“, sagte er, „was für ein schöner Baum“, und leitete so ein durchsichtiges Ablenkumgsmanöver ein.
Während sie zum Baum blickte, nippte er an seinem Bier, um sich zu beruhigen, war ihm doch bewusst, dass er das Essensthema wohl vermasselt hat. Sein Handy schien zu vibrieren, auf dem die Dating-App Alarm schlägt: ALLES FALSCH.
„Ja, ein schöner Baum!“ sagte sie, bemüht, ihren Ausflug ins Analoge zu retten, und schien dabei zu überlegen, ob es richtig war, was sie gerade gesagt hatte.

Sie standen da vor dem Baum und klammerten sich an ihre Bierflaschen. Sie versuchten, den Baum zu betrachten, die Schönheit der Natur als Analogie zu ihrer Begegnung, aber das Analoge verstörte sie. Sie waren in Gedanken nicht beim Baum, bei sich schon gar nicht. Sie waren bei ihren Handys, sie wollten sie zücken und die Dating-App um Rat fragen: HILFE, WAS NUN? Die Bierflasche gab nicht mehr genug Halt, war doch kaum mehr Bier in ihr, das man sich zur Beruhigung einfüllen kann.

Anfangs wollte ich schreiben, dass sie sich über eine Dating-Plattform kennengelernt haben. Aber das hätte das Thema verfehlt. Denn um sich kennenzulernen, muss man bereit sein, das Kennen zu lernen. Davon schienen die beiden weit entfernt mit ihrem appgesteuerten Verhalten.

Als ich lernte dass es keine Liebe gibt

Ich liege am Diwan in der Wohnküche meiner Großmutter. Im Ofen erlöscht langsam das Feuer. Ich sehe das Licht der letzten Funken durch die Ritzen leuchten. Ich schwitze am ganzen Körper, doch es schaudert mich. Kalt läuft es mir durch den ganzen Körper. Ich ziehe die Decke näher an mich. Es hilft nicht. Ich fühle mich wie nackt im kalten Schnee nach einem grauen Tag, an dem es zu dämmern beginnt.

Ich bin der geborene Prinz, der Wunschsohn, von allen geliebt: von meinem Vater, von meiner älteren Schwester. Sagen sie. Bei meiner Mutter bin ich mir nicht so sicher. Sie schien sich dem Wunsch nach einem Sohn nicht so sicher zu sein. Sie sagt es auch nicht. Dass sie mich liebt. Ihre Liebe muss ich mir hart erkämpfen. Doch sie ist es, bei der ich Wärme spüre, wenn sie mich umarmt. Wenn mein Vater und meine Schwester mich umarmen, spüre ich deren Unbehagen, als wollten sie jedes Aufkommen von Wärme vermeiden. Umso mehr muss ich kämpfen für die Umarmungen meiner Mutter.

Im Moment kann ich nicht kämpfen. Ich bin schwach. Sie haben mich zu meiner Großmutter gegeben. Über deren Umarmungen kann ich nichts sagen: Es gibt sie nicht. Ich wickle mich noch enger in die Decke, doch die Kälte in mir will nicht weichen. Ich muss gesund werden, schnell, damit ich für die Liebe meiner Mutter kämpfen kann. Für die Liebe, die mir Wärme gibt. Doch ich bin schwach. Wo ist meine Mutter? Mein Kopf sinkt erschöpft in das Kissen.

Da erscheint ein Gesang von Harfen und Klarinetten. Warm umhüllt er mich. Ich will mich aufrichten und in ihn eintauchen. Doch er tanzt mir davon. Bleib bei mir und umarme mich! Ich will ihn aufhalten, doch ich habe keine Chance. Er weitet sich zu einem großen Orchester. Seine gewaltige Kraft katapultiert mich in den kalten Schnee, der nun von Dunkelheit umhüllt ist. Ich kauere im Schnee und sehe Engel, die über mir schweben. Ich bin zu schwach, um mich zu ihnen emporzuschwingen. Sie tanzen mir fliegend davon. Ich will ihnen nach, doch kaum habe ich mich aufgerichtet, falle ich wieder. So geht das eine ganze Zeit, bis ich merke, dass mich die letzten Kräfte verlassen. Ich sinke gebrochen in den kalten Schnee. Zitternd lasse ich mich von der Kälte einnehmen, bis ich sie vor Erstarrung nicht mehr spüre. Es wird dunkler und dunkler in meiner Welt: in einer Welt ohne Liebe. Ganz weit weg sehe ich den letzten Engel entschweben.

Plötzlich schüttelt es heftig an meinen Wangen. Ich öffne die Augen und sehe das strenge Gesicht meiner Großmutter vor mir: „Was ist denn los, Bub?“ sagt sie mit strenger Stimme: „Was träumst du denn schon wieder?“

Welt Wer Worte