Konzentration auf das Wesen

Ich durchstreifte, wie so oft, die Stadt, was – das behaupte ich – zu meinem Wesen gehört. Nichts lässt sich jedoch festhalten von meinen Streifzügen. Denn was gestern war, ist heute schon ganz anders. Ich schaute also, was heute anders war als gestern, in einer Art Momentaufnahme, nicht wissend, nur ahnend, was morgen anders sein könnte als heute. Ich bewegte mich im Kreis der Zukunft langsam fort, um irgendwann auf die Vergangenheit zu treffen. Bei diesen Bewegungen kam ich an einem Schild vorbei:

Ich war mit dem Fahrrad unterwegs. Eine Durchfahrt war nicht möglich, ohne einen Straftatbestand herbeizuführen. Ich trug keinen Rock und bin auch kein Kind, dennoch hätte ich wohl zu Fuß weitergehen können. Darauf hatte ich jedoch keine Lust. Also beschloss ich, zum Anwesen zuzufahren, was zwei Vorteile bot: Ich verhielt mich korrekt im Sinne des Schildes und ich hatte Gelegenheit, das Anwesen zu betrachten.

Am Anwesen angekommen, sah ich alte hohe Bäume, die das Grundstück umrandeten und in der Mitte die Reste eines abgerissenen Hauses. Niemand befand sich auf dem Grundstück. Ist ein Anwesen, an dem niemand anwesend ist, noch ein Anwesen? Oder ist es ein Abwesen? Es ist wohl ein Abwesen. Natürlich, es ist ein Abwesen. Herrlich, wie logisch Sprache sein kann!

Das Schild, aufgrund dessen ich mich für die Zufahrt zum Anwesen entschieden hatte, hat jedoch seinen Zweck verloren, denn es regelt die Zufahrt zu einem Anwesen, nicht aber zu einem Abwesen. Muss die Zufahrt zu einem Abwesen geregelt werden? Eine Regelung wäre sehr wahrscheinlich ratsam. Das bestehende Schild ist zu ersetzen und ein neues anzubringen mit der Aufschrift: Zufahrt zu Abwesen 1 gestattet, um die Entstehung eines rechtlichen Graubereiches zu vermeiden. Oder plant man, auf dem Grund des Abwesens ein neues Anwesen zu bauen? Man müsste dann das bestehende Schild nicht ersetzen, sondern lediglich mit einem neuen Schild ergänzen, das folgende Aufschrift tragen sollte, um der Historie und dem abwesenden Zwischenstatus des Anwesens gerecht zu werden: Hier stand einst ein Anwesen, dass durch Abriss zum Abwesen wurde. Nun entsteht ein neues Anwesen.

Andererseits: Das sind Gedankenspiele mit der Zukunft. An und Ab sind vergängliche Formen, die nur die Polarität des materiellen Daseins ausdrücken. Vielleicht sollte man sich die Arbeit mit den Schildern sparen und sich statt mit An- und Abwesen zu beschäftigen auf das Wesen konzentrieren, denn irgendwann trifft die Zukunft auf ihrer Kreisbahn durch die Zeit die Vergangenheit.

Markus und die Virologengang

eine aktuelle Einschätzung zur bayerischen Landespolitik von Valentin Vorderbrandner

Ich verstehe nicht, wieso Markus Söder als bayerischer Ministerpräsident nicht zurücktritt. Er könnte einem Virologen seinen Platz überlassen und müsste sich nicht ständig als Sprachrohr von diesem benutzen lassen. Oder streiten sich dann zuviele Virologen um das Amt des Ministerpräsidenten? Und Söder bleibt deshalb im Amt, um einen Virologen-Konflikt in schweren Zeiten wie diesen zu vermeiden? Man hat in diesen Tagen ja das Gefühl, dass es mehr Virologen als Corona-Viren gibt.

Es gibt aber auch einen zweiten Vorteil, den sein Rücktritt böte: Er müsste sich nicht ständig der Ratschläge seines Stellvertreters Hubert Aiwanger erwehren, der Söder kürzlich via Bayerischem Rundfunk vertrauensvoll Folgendes mitteilte:

Lieber Markus! Wenn wir so weitermachen, dann haben wir zwar keine Corona-Toten mehr, aber die Leute verhungern uns! Ja, oder, und da greif ich jetzt vielleicht der Kollegin Huml (bayerische Gesundheitsministerin, Anm.) vor, die Leute erschlagen sich gegenseitig oder sie bringen sich selber um.

Söder hat jedenfalls, als eine Reaktion darauf, eine unabhängige Expertengruppe CSU-naher Virologen und Verfassungsexperten einberufen, die unter Wahrung aller demokratischer Mittel seinen möglichen Rücktritt prüfen sollen. Und ich verspreche Ihnen, sagte Söder abschließend: Ich lasse nichts unversucht, um mich im Amt zu halten!

Carl-Philipps tragischer Tod

Carl-Philipp, den alle nur Gottlieb nannten, war ein sehr ängstlicher Mensch, mit preußischen Vorfahren, das sollte in diesem Zusammenhang vielleicht erwähnt werden, mit entfernten verwandtschaftlichen Beziehungen zu den von Clausewitz. Carl-Philipp also bewegte sich in Zeiten der COVID-19-Pandemie laufend im Parke fort, um sich körperlich zu ertüchtigen. Er lief nicht, er rannte, im sportlichen Gewande, um keine Zweifel an der Redlichkeit seines Tuns aufkommen zu lassen. Er kam dabei so ins Schwitzen, dass er, als er an einem Bach vorbeikam, auf die Idee kam, sich in dessen Wasser zu erfrischen.

Als er sich gerade seines Gewandes entledigte, bemerkte er eine herannahende Polizeistreife, die das Treiben im Park kontrollierte. Erschrocken über sich selbst, über seinen statischen, niedergelassenen und ihm recht unrechtmäßig erscheinenden Zustand, sprang er geistesgegenwärtig ins eiskalte Wasser des Baches, tauchte unter und hoffte, dass bis zu seinem Auftauchen die Polizei wieder verschwände. Die Polizei verschwand jedoch nicht, sondern das Herz von Carl-Philipp hörte im eiskalten Wasser auf zu schlagen. Er trieb leblos im Wasser, die Polizei barg ihn, alle Wiederbelebungsversuche waren erfolglos. Der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen und entschied aufgrund der Umstände, den Toten in die Liste der COVID-19-Toten aufzunehmen.

Den Angehörigen Carl-Philipps wurde zu ihrem Trost mitgeteilt, dass er sich trotz seines tragischen Todes nichts habe zuschulden kommen lassen.

Zurück ins Leben

Vor ein paar Wochen war mir noch nicht klar, dass dünnes, saugfähiges, leicht auflösbares Papier, das der westliche Mensch nach dem Stuhlgang zur Gesäßreinigung verwendet, absolut überlebensnotwendig ist. Als es mir ausging, war schon Krise, und es gab keines mehr. Also nahm ich Küchentücher. Als mir auch die ausgingen, reinigte ich mein Gesäß mit Wasser, die Endreinigung nahm ich mit Baumwolltüchern vor, die ich dann zur Kochwäsche gab. Ich überlebte.

Gestern ging ich in den Drogeriemarkt. Es roch stark nach Desinfektionsmittel. Aber es gab Klopapier. Einfach so. Das Regal war gut gefüllt. Ich konnte mir eine Packung nehmen, ohne Bedenken. Vor einer Woche wollte ich die einsame Packung, die noch im Regal war, nicht kaufen – vielleicht braucht sie jemand anderer dringender. Die Not(durft) muss groß sein, so leer wie die Regale sind, dachte ich mir. Und jetzt – Klopapier für alle! Was für ein glücklicher Moment! Was für ein großer Schritt zurück in die Normalität! Was für ein großer Schritt zurück ins Leben!

Danke Herr Söder! Das ist sicher eine der Packungen, zwischen denen Sie medienwirksam gestanden haben, um die Produktion dieser überlebenswichtigen Papiere voranzutreiben!

Infidelia ziert sich

Zunächst sei Folgendes erwähnt: Ein Virus kam um die Ecke und wollte Infi zieren, doch Infi zierte sich, sich mit dem Virus zu zieren. Das kann man als Wortspiel ohne Sinn abtun, da Infi gar nicht Infi, sondern Infidelia heißt, womit das Wortspiel mit infizieren gar nicht mehr möglich ist, worauf sich Infi meldete und meinte, ein Virus könne sie ruhig zieren, weil sie sich ohnehin krank fühlt, seit ihrer Geburt sei sie ein krankes, moralisch verwerfliches Wesen. Ihre Mutter, sagt Infi, bezeichnet sich selbst als eine Hure, ihre Mutter sagt, Hure bedeute lieb und begehrlich, was für sie als Frau ein großes Kompliment sei, deshalb habe sie beschlossen, sich selbst als Hure, Infis Bruder als Hurensohn und Infi als Hurentochter zu bezeichnen. Ich, sagt Infi jedenfalls, bin aus einer Affäre meiner Mutter mit einem Engländer entstanden, der kurz nach meiner Zeugung zu meiner Mutter sagte: Your infidelity makes me sick, I don’t want to see you anymore! Meine Mutter sagt, das gefiel ihr, dass ihn ihre Untreue, ihre Infidelity, krank machte, denn Krankheit sei das Ehrlichste was es gibt, zu ehrlich, um geliebt zu werden, aber gerade deswegen liebe sie sie. Einmal hatte meine Mutter heftige Zahnschmerzen, erinnert sich Infi, und sie sagte: Danke Welt, dass du mich erinnerst, dass ich ein kleiner Mensch bin, der nicht so verbissen sein sollte!

Meine Mutter wollte mich Huora nennen, sagt Infi, nannte mich dann aber Infidelia, aufgrund der Aussage des Engländers, meines Vaters. Lange wollte ich Fidelia heißen, denn durch die Hurerei meiner Mutter erschien mir Treue als etwas sehr Erstrebenswertes. Außerdem bedeutet fidel in der deutschen Sprache nicht vorrangig treu, sondern vor allem lustig und vergnügt. Eine meiner liebsten Weisen lautet: Ich bin fidel, ich bin fidel, bis dass der Teufel holt meine arme Seel.

Als ich das meiner Mutter vorspielte, war sie kurz am Hadern, ob sie mich nicht doch Fidelia hätte nennen sollen. Oder Fidelia Huora, meinte sie in ihrer Euphorie: Was für ein wundervoller Doppelname!

Mittlerweile bin ich jedoch sehr zufrieden mit meinem Namen, weiß ich doch, dass die Untreue die Treue, der Kummer die Vergnügtheit, die Krankheit die Gesundheit einschließt und umgekehrt, weiß ich doch, dass das Leben alles einschließt, weshalb ich es leben will bis zum Tod.

In Zeiten des Krieges

Ich hatte mich noch einmal in die Stadt gewagt. An den leeren Regalen in den Läden erkannte ich: Jetzt ist der Krieg da! Ich habe es immer gewusst: Er war nie wirklich weg, war immer da, hat sich als Trauma tief vergraben in den Tiefen des körperlichen Gedächtnisses, als Trauma, das nie mehr hochgeholt wird, sondern auf dieser tiefen Ebene weitergegeben wird, klammheimlich, und doch mit einer Eindrücklichkeit, die berührt und aufrührt.

Da war er also, der Krieg, in den leeren Regalen, verleihte sich Ausdruck, endlich war ein Grund da, um ihn ausbrechen zu lassen, ich wusste, ich muss raus aus der Stadt, mich zurückziehen auf meinen einsamen Hof, wo ich alles habe, ein paar Tiere, ein paar Hektar Wiese, Obst- und Gemüsegarten, einen kleinen Wald. Sogar eine kleine Mühle am Bach. Nur Getreide habe ich nicht. Das hat mein Nachbar, der hat Felder weiter unten in der Ebene. Ich bekomme Getreide von ihm, dafür bekommt er Holz aus meinem Wald. Was tun, wenn er mir kein Getreide mehr gibt? Vielleicht ist jetzt, in Zeiten des Krieges, die Zeit gekommen, um eigenes Getreide anzubauen. Aber dazu brauche ich das Land des Nachbarn.

Ich kam zuhause am Hof an, der Hund bellte, etwas trieb mich, in Zeiten der Not, in Zeiten des Krieges, da ist es doch gerechtfertigt, an sich zu denken. Jeder ist sich selbst am nächsten. Ich holte mein Gewehr aus dem Schrank und tötete meinen Nachbar mit einem trockenen Schuss.

Jung und Frivol (ein Plädoyer für den Frühling)

Ich hatte den Anfang verpasst, ich war bereits unterwegs: mit Weidmann. Wir fuhren mit einem Bus, ich glaube, es war Weidmanns Bus, seltsam war nur, dass ich am Steuer saß und Weidmann Beifahrer war. Sonst war niemand im Bus, glaubte ich zumindest, aber Weidmann drehte sich immer wieder um, so als wäre jemand im Bus, so dass ich plötzlich das Gefühl hatte, Wendla, Moritz und Melchior wären im Bus, es fühlte sich an wie Frühlingserwachen, obwohl es dunkel war und ich keine Blumen auf der Wiese sehen konnte, nein, ich sah nur den Asphalt im Scheinwerferkegel vor mir.

Weidmann sprach davon, dass wir auf keinen Fall anhalten dürfen, auf keinen Fall, er sagte aber nicht warum, vielleicht fuhren wir von Italien nach Deutschland, durch Österreich, wo wir ja nicht anhalten dürfen, das wusste ich, aber ich dachte nicht an Tankinhalt und Harndrang, die uns zum Anhalten zwingen könnten, diese Gedanken kamen mir überhaupt nicht in den Sinn, ich konzentrierte mich auf den Scheinwerferkegel vor mir, auch Weidmann drehte sich nicht mehr um, zu Wendla, Moritz und Melchior, sondern konzentrierte sich auch auf den Scheinwerferkegel vor uns.

Vermutlich wären wir ohne Anhalten durch Österreich gekommen, als sich die Fahrbahn plötzlich teilte, nach links in ein bläulich kaltes dunkles Licht und nach rechts in ein gelblich warmes helles Licht, und mir war klar, dass für ein Weiterfahren ein Eintauchen in das bläulich kalte dunkle Licht erforderlich gewesen wäre, aber ich hatte Angst, in das bläulich kalte dunkle Licht einzutauchen, wie unter Zwang steuerte ich nach rechts, ins gelblich warme helle Licht, wo uns eine Polizeikontrolle erwartete, das war keine Überraschung, das war völlig klar, ich war willentlich in diese Kontrolle gefahren, obwohl wir doch gar nicht anhalten dürfen, ich sah Weidmann an, und er sah mich an. Ich drehte mich um, aber im Bus saßen nicht Wendla, Moritz und Melchior. Der ganze Bus war eine ebene Fläche, auf der sich niemand befand, nur ein kleines gelbes Büchlein, das sogleich von den Polizisten beschlagnahmt wurde. Solch verwerfliche Ware müssen wir konfiszieren! lautete die Ansage. Ich verstand nicht, von was die Rede war, bis mir einer der Polizisten das Büchlein unter die Nase hielt. Ich las:

Emil Hinterstoisser
Jung und Frivol
ein Plädoyer für den Frühling

Sie zerrten mich aus dem Bus, packten mich:
Sie sind verhaftet!
Aber ich bin doch nur ein Mensch, der das Leben liebt. Lesen Sie das Buch, und Sie werden es verstehen!
Ich wehrte mich, doch sie ließen nicht los, und ich war froh, dass Wendla, Moritz und Melchior nicht im Bus waren, ich bildete mir ein, sie im Mondlicht über die Hügel laufen zu sehen. Frühlingserwachen, ist das schön, dachte ich, und mir kamen vor Rührung die Tränen. Weidmann stand wortlos da, was mich beruhigte, und so sagte ich:
Na gut, gehen wir.
Die Polizisten ließen mich los und schauten mich ratlos an. Ich ging den Asphalt entlang, hinunter zu den grauen Häusern, und sie folgten mir ehrerbietig. Als unser Trauerzug die grauen Häuser erreicht hatte, legte ich mein Schuldgeständnis in musikalischer Form ab:

Ort der Erörterung (ein Bericht von Stephan Katzert)

Ein Mensch namens Katzert stand plötzlich in der Tür, ich hatte ihn noch nie vorher gesehen, und Katzert sprach davon, dass er es gut finde, dass ich die Nachsilbe ert in meine Texte aufgenommen habe: Ert sage soviel mehr als sein übliches Substitut Menge, ein Menschert sei viel plastischer als eine Menschenmenge. Wie man an meinem Nachnamen erkennt, komme ich aus einer Gegend, in der die Nachsilbe ert viel verwendet – ja, ich möchte fast sagen – exzessiv verwendet wird, sagte Katzert. Wobei man in meiner Gegend dem trockenen Menschert noch ge voran- und er zwischenfügt, um es blumiger lauten zu lassen: Man spricht vom Gemenscherert.

Er sei nicht verwandt mit einem gewissen Kratzert, der in derselben Gegend aufgewachsen sei, ja, sogar im selben Ort, das sei reiner Zufall, und das R in Kratzerts Namen mache einen großen Unterschied, so Katzert, denn sein Name bedeute Katzenmenge, was wohl auf ein Bauerngehöft mit vielen dort lebenden Katzen hinweist. Auf dem Katzengehöft, da hockt meine Familie schon seit Jahrhunderten, und alle erstgeborenen Männer heißen Stephan, seit Jahrhunderten, man möchte fast sagen, ein Stephanert, diese Katzerts, auch ich heiße so, Stephan Katzert, ja, Stephan Katzert im übrigen mein Name. Habe ich das bereits erwähnt?

Als Kind ging ich viel in die Kirche, mit meiner Mutter Maria ging ich hinein zur Messe, während mein Vater Stephan draußenblieb, um später zum Frühschoppen beim Kirchenwirt zu gehen. Stephan und Kirchen, das sind die zwei Worte, die mir einfallen, wenn ich an den Ort denke, wo ich aufgewachsen bin. Mein Großvater Stephan, den ich nur mit roter Nase kannte, kam nie zur Kirche, sondern ging gleich zum Kirchenwirt zum Frühschoppen. Wenn er nach dem Frühschoppen nachhause kam, schien mir seine Nase noch röter als sonst, er sprach dann oft vom Gemenscherert, das nach dem Krieg in den Ort kam und auf dem ehemaligen Kasernengelände wohnt. Komische Leute, alle miteinander, ein Gemenscherert halt, sagte Großvater Stephan. Mit denen kannst du nichts anfangen! Er meinte die Siedlung Haidholzen, die Heimatvertriebene nach dem Krieg gründeten, auf dem Gelände eines vormaligen Zwangsarbeitslagers. Mutter Maria wurde bei diesen alkoholgeschwängerten Reden von Großvater Stephan zornig und traurig, stürmte erbost aus dem Zimmer ins Schlafzimmer, um auf ihrem Bett einen Migräneanfall zu bekommen. Sie stammt selbst vom Gemenscherert, ist die Tochter von Heimatvertriebenen, und einmal hörte ich Großvater Stephan zu Vater Stephan sagen: Das verzeih ich dir nie, dass du so eine geheiratet hast, von diesem Gemenscherert. Schau an, wie krank sie dauernd ist! Ein andermal hörte ich Mutter Maria zu Vater Stephan sagen: Im Krieg hat er Leute erschossen, jetzt säuft er ohne Reue. Ich hasse deinen Vater! Als sie bemerkte, dass ich gelauscht hatte, machte sie drei Kreuze und bekam wieder einen Migräneanfall.

Als ich Vater Stephan fragte, was Großvater Stephan im Krieg gemacht hat und warum es Mutter Maria so schlecht geht, sagte er: Bub, wir haben es so schön hier – die Wiesen, die Wälder, der See, die Berge. Dabei blickte er traurig. Und dann lief er über die Wiesen und durch die Wälder, stundenlang, mit mir, und ich mache das heute noch, über Wiesen und durch Wälder laufen, stundenlang, so komme ich zu mir, und oft setze ich mich am See auf einen Stein oder an einen Baum, so wie mein Vater Stephan das oft gemacht hat, und schaue auf das Wasser, und manchmal weine ich, wenn ich auf dem Stein oder an einem Baum sitze und auf das Wasser schaue. Dann wird es leichter, denn ich bin auch ein Stephan, und manchmal ist es schwer, ein Stephan zu sein.

Katzert stand noch immer in der Tür, und sagte: Das wollte ich Ihnen sagen, über den Ort, wo ich herkomme, denn ich finde, ein Ort ist nicht einfach ein Ort. Ein Ort muss erörtert werden. Er wandte sich ab um zu gehen, drehte sich noch einmal um und sagte: Katzert mein Name, Stephan Katzert. Habe ich das bereits erwähnt? Und falls Sie meinen Text in Ihre Sammlung aufnehmen möchten, nennen Sie ihn bitte Ort der Erörterung. Das wäre mir wichtig.

weitere Erörterung…

Die Zeit im Lauf der Zeit

Betrachtungen zum 29. Februar 2020

Am Tag scheint die Sonne und in der Nacht scheint der Mond. Das war meine erste Wahrnehmung der Zeit. Dass eine Woche sieben Tage hat, ignorierte ich als Unwahrheit, denn eine Woche hat sieben Tage und sieben Nächte. Und die Länge dieser Tage und Nächte, zusammen immer vierundzwanzig Stunden, aber zueinander immer unterschiedlich, ist abhängig von den Jahreszeiten. Dem Phänomen der Jahreszeiten ging ich damals noch nicht genauer nach, denn ein Jahr war für mich eine unfassbar unendliche Zeiteinheit: Dreihunderfünfundsechzig Tage und Nächte – eine Ewigkeit. So entdeckte ich zunächst den Monat, mit seiner überschaubaren Zeitspanne von vier Wochen plus zwei oder drei Tagen und Nächten. Aber wieso ist ein Monat vier Wochen plus zwei oder drei Tage und Nächte lang? Was passiert in einem Monat? Der Mond umrundet in einem Monat einmal die Erde, bekam ich als Antwort, deshalb heißt der Monat Monat, abgeleitet vom Mond. Ich folgerte: Im April, Juni, September und November braucht der Mond dreißig Tage und Nächte um die Erde, während er im Januar, März, Mai, Juli, August, Oktober und Dezember etwas rumtrödelt und einen Tag und eine Nacht länger braucht. Im Februar dafür gibt er Gas und braucht nur achtundzwanzig Tage und Nächte, also genau vier Wochen. Im Februar ist sich der Mond scheinbar der Zeiteinheit der Woche bewusst. Aber warum nur im Februar, warum ist es ihm sonst egal? Zu meinem Entsetzen stellte ich außerdem fest – ich glaube es war in der Grundschule, als ich das erste Schaltjahr bewusst erlebte -, dass der Mond alle vier Jahre im Februar neunundzwanzig Tage und Nächte braucht, um die Erde zu umrunden, also vier Wochen und einen Tag und eine Nacht. Der Mond hat ein sehr schlampiges Verhältnis zu den Wochen.

Als ein der Zeit Verfallener und in einem Alter, als mein erstes bewusst erlebtes Schaltjahr schon einige Zeit vorüber war, erfasste ich den Zeithorizont des Jahres. Zwölf Monate ergeben ein Jahr. Der Mond umrundet also in einem Jahr zwölfmal die Erde? Ja, so ungefähr. Aber wichtiger ist eigentlich, dass die Erde in einem Jahr einmal die Sonne umrundet. Das Ungefähr in der Antwort machte mich stutzig, und brachte mich dazu, die Frage zu stellen, die mich schon länger beschäftigte: Wieso braucht der Mond unterschiedlich lang, um die Erde zu umrunden? Wieso sind die Monate unterschiedlich lang? Der Mond braucht nicht unterschiedlich lang: Er braucht siebenundzwanzig Tage, sieben Stunden, dreiundvierzig Minuten und sechsundreißig Sekunden. Die Nächte fehlten mir in dieser Antwort, aber ich hielt mich damit nicht auf, denn aus einem anderen Grund brach eine Welt in mir zusammen: Der Mond hält sich nicht an meine liebgewonnenen Monate beziehungsweise die Monate halten sich nicht an den Mond. Ich versuchte mich abzulenken, indem ich mich den Wochen zuwandte mit ihren verlässlichen sieben Tagen und sieben Nächten, und erstellte folgende Rechnung (bei der ich die Tage und Nächte nun selbst zusammen vereinfachenderweise als Tage bezeichnete):

Januar      31
Februar     28
März        31
            90 Tage = 13 Wochen - 1 Tag

April       30
Mai         31
Juni        30
            91 Tage = 13 Wochen

Juli        31
August      31
September   30
            92 Tage = 13 Wochen + 1 Tag

Oktober     31
November    30
Dezember    31
            92 Tage = 13 Wochen + 1 Tag

Drei Monate eines Jahresquartals bestehen aus fast exakt dreizehn Wochen. Die dreizehnte Woche teilen sich die drei Monate geschwisterlich untereinander auf. Wobei mich das Fast in dieser Feststellung genauso stört wie das Ungefähr bei den Mondumrundungen der Erde. Ein Jahr besteht nämlich als Folge dieses Fasts nicht aus zweiundfünfzig Wochen, sondern aus zweiundfünfzig Wochen und einem Tag, in einem Schaltjahr sogar aus zweiundfünfzig Wochen und zwei Tagen. Auch die Arithmetik der Wochen befriedigte mich nicht.

Also zurück zu den Monaten: Wieso sind die Monate, mit Ausnahme des Februars, dreißig und einundreißig Tage (Ich verzichte im weiteren aus Vereinfachungsgründen gänzlich auf die Angabe der Nächte.) lang, wenn der Mond nur siebenundzwanzig Tage, sieben Stunden, dreiundvierzig Minuten und sechsunddreißig Sekunden braucht, um die Erde zu umrunden? Weil ein Jahr nicht aus zwölf Mondumrundungen um die Erde, sondern aus einer Erdumrundung um die Sonne besteht. Und die Erde braucht dreihunderfünfundsechzig Tage, fünf Stunden, achtundvierzig Minuten und sechsundvierzig Sekunden, um die Sonne zu umrunden. Der Monat, diese mir so liebgewonnene Zeiteinheit, steht also völlig willkürlich zwischen Tag und Jahr? Einem Jahr, das ich übrigens auch Sonnat nenne, abgeleitet von der Sonne. Unsere Zeitrechnung richtet sich nach der Sonne, nicht nach dem Mond. Und vielleicht sollte die Zeit überhaupt nicht lichtabhängig gesehen werden, sondern in Bezug auf einen fiktiven unendlich weit entfernten Fixstern ohne Eigenbewegung.

Das war zuviel für mich. Ich sah Tage und Nächte dahinschwinden und mich dabei verlieren in unendlicher Schlaflosigkeit im Licht des fiktiven Fixsterns, der die lichtunabhängige Zeit vorgibt. So wie die Dinge für mich sind, stehe ich auf dem Boden der Erde am Ende des Februars. Ich sehe die Sonne hinter den Bäumen untergehen, und zwar später und westlicher als noch vor ein paar Wochen. Der Frühling kommt, es wird lichter:

Bei diesem Anblick träume ich von lauen Sommernächten, in denen ich es mit der Realität wie Rilke halte, ganz fiktionsfrei:

Die Nacht liegt duftschwer auf dem Parke
und ihre Sterne schauen still
wie des Mondes weiße Barke
im Lindenwipfel landen will.

Weitere Betrachtungen zur Zeit

Schauerschaft

Man sagt, die sogenannte Leserschaft ist eine aussterbende Gruppe von Menschen. Man ist geneigt, in Zeiten der Instagramisierung des Lebens von der Seherschaft zu sprechen, eine Menschengruppe, die immer größer zu werden scheint. Seherschaft verbinde ich jedoch zu sehr mit dem klassischen Fernsehpublikum, deshalb spreche ich lieber von Schauerschaft.

Zu dieser Gruppe rechne ich mich durchaus auch, nur dass ich lieber in die Natur schaue als in das multimediale Gerät namens Smartphone. Ich schaue zum Beispiel gern das Wasser an, auch die Bäume, vor allem den Himmel. Um die Jahreszeit, wenn der Frühling sich ankündigt, bin ich besonders fasziniert von den Niederschlägen, die der Himmel von sich lässt, und ich werde dann zum Schnee-, Hagel-, Graupel- und Regenschauer.

Regenschauer (Foto: Stephanie Eder)

Wie stehe ich nun zur Leserschaft? Bekenne ich mich zu dieser aussterbenden Gruppe, trotz allem eigenen Schauens? Nun, ich liebe die Buchstaben, diese abstrakten Zeichen, am liebsten in der Schriftart Courier New, deshalb hängt dieses Bild über meinem Schreibtisch, damit ich es immer anschauen kann:

Buchstaben und ihre kunstvolle Aneinanderreihung zu Wörtern und Geschichten erzeugen in mir Bilder, die anders sind als die einer Kamera. Persönlicher. Intimer. Ich kann mir ein Leben ohne Buchstaben nicht vorstellen, denn sie veranschaulichen mir mein Leben auf eine einzigartige Weise.

 

Welt Wer Worte