Denk an Jiří Parma 1: Pavela Plocova

Im Netz kannte man ihn als Prag Matiker, aber er heißt Jiří Parma, genauso wie der ehemalige Schispringer. Er ist in Harrachov aufgewachsen, wo die Schanzen stehen, von denen Jiří Parma, der Schispringer, am liebsten gesprungen ist. Er hat als Kind geträumt von Jiří Parma, Parma sprang von der großen Čerťák-Schiflugschanze in Harrachov und hat während des Flugs die Kontrolle verloren, es überschlug ihn in der Luft, er schlug hart auf dem Boden auf und versank ins bewusstlose Delirium, und obwohl er am nächsten Tag an der Schanze war, wo er Jiří Parma springen sah, nicht elegant wie einen Vogel, aber kontrolliert, sicher, ohne Sturz, glaubte er nicht was er sah, er sah Jiří Parma den Stürzenden, dieses Bild verfolgte ihn, obwohl Jiří Parma wenig gestürzt ist bei seinen Sprüngen. Kontrollverlust war seitdem eine ständige Bedrohung für ihn, Harrachov bedeutete für ihn Kontrollverlust, deshalb ging er weg aus Harrachov, er wollte seinen Namensvetter nicht mehr springen sehen, er ging nach Prag, er studierte Mathematik, um mittels Geometrie und Zahlen die Kontrolle über das Leben zu erlangen, doch inmitten der Geometrie und Zahlen traf er Pavela Plocova und verliebte sich heftig in sie – ja, sie hieß tatsächlich Pavela Plocova – und sie erinnerte ihn an Pavel Ploc, auch ein ehemaliger Schispringer, den er seit seinen Kindertagen in Harrachov auch als einen Stürzenden gespeichert hat, obwohl das wahrscheinlich gar nicht stimmt,

aber Pavel Ploc bedeutete für ihn genauso Kontrollverlust wie Jiří Parma, der Kontrollverlust verfolgte ihn auch in Prag, indem er Pavela Plocova traf und sich heftig in sie verliebte, er vernachlässigte wegen ihr Geometrie und Zahlen, bis sie eines Morgens von der Geliebten zur Hassfigur mutierte, eine Mutation, die ihn schwer verletzte, sie lagen im ersten Morgenlicht gemeinsam im Bett, als Pavela sagte: Už tě nemiluji, das ist tschechisch und heißt Ich liebe dich nicht mehr, nun war auch Prag durch Pavela endgültig ein Ort des Kontrollverlusts geworden, er versuchte sich von Prag zu abstrahieren, indem er sich jetzt voll auf Geometrie und Zahlen stürzte, dieses Stürzen wurde zur Manie und brachte ihn nach Deutschland, wo er Mathematik lehrt.

Das Deutsche, sagt Parma, habe immer eine Rolle gespielt in seiner Familie, sein Name habe zwar etwas mit der Stadt Parma in Italien zu tun, Vorfahren von ihm kämen von dort, als Parma aber unter habsburgischem, also österreichischem Einfluss war, deshalb seine Affinität für das Deutsche, nicht zufällig sei er in Deutschland, nichts im Leben sei zufällig, auch wenn er sich nicht erklären kann, wieso ihn der Kontrollverlust ständig verfolgt, so wie auf der Autofahrt vergangenes Frühjahr von Prag nach München, da habe ihn der Kontrollverlust wieder heimgesucht, als er diesen Mann im Radio hörte, der tiefe Ängste in ihm weckte, er hätte den Sender wechseln können, um diesem Mann nicht weiter zuzuhören, aber er hörte ihm weiter zu, er schrie den Mann an: Geh scheißen und entspann dich! – das hatte mal ein österreichischer Kollege zu ihm gesagt, als er stundenlang über Mathematik geredet hatte – aber der Mann im Radio hörte nicht auf, er redete und redete. Als er endlich aufgehört hatte zu reden und keine Resonanz mehr bot, fuhr Parma von der Autobahn ab und tief in einen böhmischen Wald hinein, dort stieg er aus dem Wagen und fing laut zu schreien an, seine Wut war eine unermessliche. Er rannte umher, verwirrt und verzweifelt, er hetzte mit Pavel, seinem Hund – nach Pavela benannt -, stundenlang über Stock und Stein. Sehr viel später, als er sich endlich beruhigt hatte, stieg er wieder ins Auto und fuhr weiter nach München.

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Über das allmähliche Verfertigen der Gefühle beim Schweigen

für Lucie und Amelie, meine Lehrmeister

„Was ist denn?“ frage ich sie und erwarte eine Antwort. Aber sie bleibt reglos auf dem Trampolin liegen, auf dem ihre Schwester hüpfen will, und schweigt. Etwas bewegt sie, das sehe ich, etwas, für das sie keinen Ausdruck findet, keinen sprachlichen zumindest, denn ihr Gesicht ist voller Ausdruck, sie lässt sich bewegen von diesem Etwas, gibt sich ihm hin und lässt sich von keinem Wort irritieren. Ich frage nicht weiter nach, ich spüre, es gibt nichts zu fragen, höchstens etwas zu ertragen, nichts zu sagen, was mit Sprache zu klären wäre, im Gegenteil, die Klarheit verschafft sich durch das Schweigen Raum. Sogar ihre Schwester schweigt, anstatt sich auf dem Trampolin Platz zu verschaffen.

Dann aber – schweigende Klarheit ist nicht so leicht zu ertragen mit den Gefühlen, die sie frei lässt – fängt ihre Schwester laut zu weinen an, während sie reglos auf dem Trampolin liegen bleibt. Ist jetzt der Augenblick, um als Erwachsener mit vernünftiger sprachlicher Intervention einzugreifen? Ich bin zu ergriffen von ihrem klaren Schweigen, um zu einer vernünftigen sprachlichen Intervention bereit zu sein, was ist das überhaupt, eine vernünftige sprachliche Intervention? Jedenfalls schlage ich vor, was ich mir selber oft vorschlage, um einer bedrückenden Situation den Druck zu nehmen, ich schlage vor, nach draußen zu gehen, in den Schnee, sie bleibt jedoch weiter ohne Regung auf dem Trampolin liegen, ihre Schwester rennt nun weinend aus dem Zimmer in den schützenden Schoß der Mutter. Nur mehr wir beide sind im Zimmer, sie richtet sich auf und sagt: „Ja, gehen wir Schlittenfahren!“

Wir packen uns warm ein und mäandern zum Schlittenhang, der ein gutes Stück von Zuhause entfernt ist. Wir biegen ab in Winkel, die wir noch nicht kennen, lassen uns in kleine Pfade leiten, die wir in unserer Muse entdecken wollen. Wir reden nichts. Sie summt eine Melodie, ich habe den Eindruck, sie gibt so ihrer Freude Ausdruck, ich nenne es Freude, wahrscheinlich gibt sie all ihren Gefühlen Ausdruck, den großen und mächtigen Gefühlen, die gleichzeitig so fein und nuanciert sind, dass sie sich jeder konkreten Benennung entziehen.

Wir verlassen unsere geheimnisvollen Pfade und kommen auf die Straße, die in den Park zum Schlittenhang führt. Sie sagt: „Ich habe meine Schwester gehört – ja bestimmt war sie das! Denn ich kenne ihre Laute sehr gut.“
„Vermisst du sie schon?“ frage ich.
„Nein, gar nicht“, sagt sie: „Wir streiten so viel, ich vermisse sie gar nicht.“

Als wir den Park erreichen, sehen wir – zu unserer Überraschung – ihre Schwester am Schlittenhang stehen. Sofort läuft sie los zu ihr, ihre Schwester läuft ihr entgegen, sie rennen so schnell sie können, sie rennen sich in die Arme, sie drehen sich und lachen laut, sie kugeln sich im Schnee.

Systemrelevanter Kältetod

Bei meiner systemrelevanten Tätigkeit der Überstellung von reparatur- und servicebedürftigen Automobilen von ihrem Besitzer in die Werkstatt, die ich momentan verstärkt ausübe mangels systemischer Relevanz meiner künstlerischen Aktivitäten, bin ich viel draußen. Deshalb trage ich in der kalten Zeit meine daunengefütterte Jacke. Sie ist meine Überlebensversicherung gegen die Kälte.

Bei meiner wärmenden Jacke ist jedoch der Reißverschluss kaputt gegangen. Ich verschränke die Arme vor meinem Körper, um sie notdürftig zu schließen und gehe mit dringlichen Schritten zur Änderungsschneiderei, um den Reißverschluss reparieren zu lassen. Bei diesem Gang stoße ich auf einen Demonstranten, der ein Schild in die Höhe hält mit der Aufschrift:

IMPFSTOFF IN FLASCHEN STATT IN DOSEN! STOPPT DEN ÖKOLOGISCHEN WAHNSINN!

Sie steht dabei vor einem Berg entsorgter Weihnachtsbäume, die gestorben sind, um Gottes Sohn zu gebären.

Ich fröstle mich weiter zur Änderungsschneiderei, die, als ich sie erreiche, verschlossen ist. An der Tür steht:

Lieber Kunde,
falls Sie mich dringend benötigen, irren Sie sich, denn meine Tätigkeit ist nicht systemrelevant.

Plötzlich schleicht die Kälte noch mehr unter meine Haut, eine Angst vor dem Erfrierungstod beschleicht mich. Ich stehe an der verschlossenen Tür, während die Autos an mir vorbeibrausen. Ein Auto müsste ich haben, das könnte ich reparieren lassen, damit es mich warm hält – im Gegensatz zu meiner Jacke: Die kann ich nicht reparieren lassen. Ich könnte eine neue Jacke online bestellen, aber die ökologische Verwerflichkeit dieser Tat widert mich an, sodass sie nicht in Frage kommt. Stoppt den Online-Konsumwahnsinn!

Während ich so verfroren dastehe und nach Lösungen suche, sagt Hubert zu Markus in der warmen Staatskanzlei:
„Moorkus, ich denke Änderungschneidereien sollten wir öffnen lassen, die Leute erfrieren uns sonst!“
„Ganz ehrlich Hubert“, meint Markus daraufhin: „Tote, die erfroren sind, sind meistens dumm und drogenabhängig gewesen – die hätten niemals CSU gewählt, oder – meinetwegen – Freie Wähler. Während Corona-Tote tendenziell alt oder krank oder beides gewesen sind – eine wichtige konservative Wählerschicht. Die dürfen wir nicht einfach so sterben lassen. Lieber ein erfrorener Toter als ein Corona-Toter. Jede Stimme zählt!“

Ich sehe mich als Halberfrorener vor einem Supermarkt betteln, ob mir jemand eine Semmel mitnehmen kann, da ich keine FFP2-Maske besitze. FFP2-Masken-Produzent müsste man sein – da bekäme man einen warmen Empfang in der Staatskanzlei. Plötzlich, mitten in die kalte Depression hinein, kommt mir die rettende Idee: Ich gehe zurück zum Demonstranten, werfe mich in den Haufen toter Tannenbäume hinter ihr und vergrabe mich darin. Die toten Tannenbäume werden mich warmhalten wie einen Igel unterm Laub, bis meine Änderungsschneiderei wieder öffnet und meine Jacke repariert. Und sollte ich der Kälte nicht trotzen, dann muss ich erkennen, dass mein Leben nicht relevant genug ist, um vor dem Tod geschützt zu werden.

Nachweihnachtswinterquartier

Kadaver im Kader

Die Redaktion hatte die Berichterstattung über den Kader für das Schirennen gerade abgesegnet, als plötzlich die Nachricht die Runde machte, dass von einem gewissen Noit, einem Mitglied des Kaders für das Schirennen, der Kadaver gefunden worden sei, woraufhin ein Mitglied der Redaktion meinte, man könne nun unmöglich über den Kader für das Schirennen berichten, sei doch Noit so etwas wie das Schlüsselmitglied des Kaders gewesen, schließlich lese sich Redaktion von hinten gelesen Noitkader, und dies sei der einzige Grund gewesen, überhaupt über den Kader für das Schirennen zu berichten, jetzt, ohne Noit, sei dieser Grund weggefallen, man werde nun über den Kader für das Schirennen überhaupt nicht mehr berichten, woraufhin sich ein anderes Mitglied der Redaktion meldete mit dem Vorschlag, die Redaktion solle sich ab sofort Revadaktion nennen, um über den Noitkadaver zu berichten, die Reaktion der restlichen Redaktion auf diesen Vorschlag war allgemeines Kopfschütteln, mitten in diesem Kopfschütteln fuhr ein Schieber an den Redaktionsmitgliedern vorbei, also ein auf Schiern fahrendes männliches Schwein, ein Mitglied der Redaktion machte daraufhin den Vorschlag, Noit durch den Schieber im Kader zu ersetzen, die Reaktion der restlichen Redaktion war noch mehr Kopfschütteln, denn schließlich, so die einhellige Meinung der restlichen Revadaktion, schließlich sei die Würde des Menschen unantastbar, man könne Noit, selbst wenn er nur mehr ein Kadaver sei, nicht durch ein auf Schiern fahrendes männliches Schwein ersetzen, was allgemeines Kopfnicken hervorrief und in dem Beschluss mündete, nicht mehr über den Kader für das Schirennen zu berichten. Der Vorschlag, als Revadaktion über den Noitkadaver zu berichten, wurde ebenfalls nicht weiter verfolgt.

Back to Anger (Ihr Kinderlein saufet) 2

Fortsetzung von Teil 1

Nach diesem gemeinsamen Ausflug sahen Mitterbichler und ich uns nicht wieder. Ich wollte, ich musste weg vom Stoissertal: war in Wien, in Rom, in Paris, in London. Und schließlich landete ich in München.

Und hier bin ich, in München, an einem grauen Dezembertag des Jahres 2020, kurz vor Weihnachten, mitten im Lockdown der Corona-Krise, Vorderbrandner fuhr mich mit einem London-Taxi durch die Stadt, wir hatten, wie gesagt, triftige Gründe dafür, schließlich arbeiteten wir an unserem weihnachtlichen Feature Alkoholismus unterm Tannenbaum, kamen aber nicht recht voran. Bewegung inspiriert, hofften wir. Vorglühen zu Weihnachten, Vollrausch zu Sylvester – beides ist dieses Jahr nicht möglich. Es herrscht eine Sehnsucht nach Normalität. Das hatte ich bisher notiert. Wir warfen uns Parolen zu wie Alkohol, das Öl der Gesellschaft oder Gemeinsam saufen ist normal, alleine saufen ist fatal. Die Sehnsucht der Herzen nach Normalität. Um uns weiter zu inspirieren, spielte ich im geräumigen Fond des Taxis, wo ich meine Gitarre fertig gestimmt hatte, die umgetextete Version des Weihnachtsklassikers Ihr Kinderlein kommet:

Ihr Kinderlein saufet, oh saufet doch all
Ins Koma euch saufet zu Bethlehems Stall
Und seht was in dieser hochgeistigen Nacht
das Saufen ins Koma für Freude uns macht

Oh sehet die Hirten, den Kai und den Udo,
Ihnen ist kotzübel, sie kotzen ins Stroh
Vom vielen Komasaufen ist ihnen ganz schlecht
Manche würden sagen: "Das geschieht ihnen recht!"

Oh sehet das Kindlein im vollgekotzten Stroh
Maria und Josef suchen derweil ein Klo
Und weil sie keins finden machen sie ins Gebüsch
Da sehen sie Kai und Udo und rufen: "Erwischt!"

Hier die Version unseres Features, die wir schlussendlich gesendet haben:

Aber das nur nebenbei, denn unsere Taxifahrt ging weiter und nahm einen unerwarteten Verlauf: Plötzlich nämlich, ich legte die Gitarre gerade zur Seite, fiel mir eine verwirrte Gestalt am Straßenrand auf, ich schaute ihr nach, die Gestalt trug eine abgetragene braune Jacke mit einem roten, einem gelben und einem weißen Streifen über der Brust und an den Ärmeln. Ich schaute in die andere Richtung, um das eben Gesehene zu verarbeiten. Oder um es zu vergessen. Als es mich wie der Blitz traf: Mitterbichler? Mitterbichler. Mitterbichler! –

„Halt sofort an!“
„Geht hier nicht.“
„Doch, halt an! Lass mich raus!“
Unter einem Hupkonzert lief ich über die Straße. Er war es, natürlich, wer sonst, die verwirrte Gestalt war Mitterbichler, in der Jacke wie damals in Schwabing, fröstelnd, mit wirrem Blick. Als ich näherkam, merkte ich: Er war völlig betrunken.

Ich hätte ihn stehen lassen können, aber ich tat es nicht, ich zerrte ihn ins London Taxi, Vorderbrandner fuhr weiter, Mitterbichler lag auf der Rückbank, völlig apathisch, nicht ansprechbar, ich sagte zu Vorderbrandner: „Oasis: Don’t Look Back in Anger – spiel das mal!“ Als die ersten Töne erklangen, horchte Mitterbichler auf: „Back to Anger“, murmelte er. Dann kotzte er ins Auto.

Nachdem wir an der Tanke das Gröbste entfernt hatten, sagte ich zu Vorderbrandner:
„Fahr nach Anger!“
„Wohin?“
„Salzburger Autobahn, kurz vor der Grenze.“
Es war schlechte Luft im Wagen. Mitterbichler schlief röchelnd auf der Rückbank ein, während ich ihn vom Klappsitz hinter der Fahrerkabine beobachtete. Ab und zu zuckte er hoch, schaute erschreckt, um wieder wegzudösen.

Back to Anger – mit freundlicher Genehmigung von Volvo Autohaus München. Foto: Isabel Sieber

„Ich sag dir, was mit dem ist“, sagte Vorderbrandner und setzte zu einem Vortrag an: „Der Opa war bei der Wehrmacht und hat nicht darüber geredet, die Oma hat das Mutterkreuz verliehen bekommen und war stolz darauf, mit dem Vater durfte nicht über Neger geredet werden, denn schon Schlesier und Sudetendeutsche waren unerträgliche Menschen, und die Mutter flüchtete sich in ihrer Verzweiflung in eine christliche Doppelmoral. Ein ganz normaler bayrischer Lebenslauf: Über nichts darf geredet werden, man spürt und fühlt es dafür umso mehr, man bekommt Angst vor diesen Gefühlen und muss sie betäuben. Mit Alkohol.“ Mitterbichler röchelte unbeeindruckt auf der Rückbank weiter, während ich überlegte, ob wir Vorderbrandners Vortrag in unser Feature aufnehmen sollten.

In Anger hielten wir am Dorfplatz, Mitterbichler röchelte weiter, Vorderbrandner und ich stiegen aus. Ich schaute zurück und sah, wo Mitterbichlers Wagen gestanden hatte, damals, als wir nach München aufbrachen. Da kam mein Onkel daher: „Emil, was für eine Überraschung! Schöne Weihnachten! Schau doch wieder mal am Sportplatz vorbei!“ Seine Augen wurden glasig, das werden sie immer, seit mein Vater, sein Bruder, tot ist: „Was führt dich hierher, Junge? Hat dich das Heimweh gepackt?“
„Wir haben den Mitterbichler im Auto. Wohnt der noch hier?“
„Ja, ja, gleich da drüben. Bei seinen Schwiegerleuten im Haus, mit seiner Frau und seinen zwei Kindern… – ja, was ist denn mit ihm?“
„Der hat einen totalen Rausch.“
„Oh mei, oh mei, des Corona! Normalerweise geht er zum Sportverein oder zur Musikkapelle einen heben, aber des geht ja jetzt ned…“
Mein Onkel schaute verwundert auf unser Taxi. Ich öffnete die Tür, daraufhin stieg mein Onkel in den Wagen und weckte Mitterbichler unsanft: „Geh jetzt heim und schlaf dein Rausch aus, du besoffener Depp!“
Mitterbichler kroch aus dem Wagen und schlurfte nachhause.

Ich blickte hoch zum Stoissberg und überlegte für einen Moment, Vorderbrandner allein fahren zu lassen und in Anger zu bleiben, da sagte mein Onkel: „Und jetzt? Fahrt’s wieder? Weg aus dem Risikogebiet Berchtesgadener Land?“ Er lächelte mit seinen immer noch glasigen Augen.

Ich stieg ein, Vorderbrandner lenkte das Taxi auf die Autobahn. Ich blickte hinten raus, zurück nach Anger, und sagte zu Vorderbrandner: Spiel bitte noch einmal Oasis – Don’t Look Back in Anger!“

Back to Anger (Ihr Kinderlein saufet) 1

Ein grauer Dezembertag im Jahr 2020, kurz vor Weihnachten, mitten im Corona-Lockdown. Vorderbrander fuhr mich mit einem London-Taxi durch München, triftige Gründe hatten uns dazu gebracht: Wir waren auf der Suche nach Inspiration für unser Feature Alkoholismus unterm Weihnachtsbaum, kamen aber nicht recht voran. Dann wurden wir auch noch von der Realität eingeholt. Doch bevor ich von dieser realistischen Einholung erzähle, muss für Ihr Verständnis, geneigter Leser, Folgendes erwähnt werden:

Zum Tal der Stoisser Ache – dem Stoissertal, wie ich es nenne – habe ich eine romantische Beziehung, obwohl es nicht nur von der Ache, sondern auch vom Verkehr der Autobahn München-Salzburg durchflossen wird. Zwischen den sanften Hügeln des Högls und des Stoissbergs liegt das grüne Tal, und oben, wo die Ache entspringt, an den Flanken des Stoissbergs, liegt das Gut Hinterstoiss, wo der erste Hinterstoisser wohnte, oder zumindest der erste, der so genannt wurde.

Ich war gerade achtzehn geworden, es war ein milder Frühlingstag Mitte der 1990er Jahre, und ich näherte mich dem Stoissertal wie immer von Norden, von Freilassing kommend, ich radelte über die Westflanken des Högls nach Anger, dem größten Dorf im Stoissertal. Ich weiß nicht mehr, was genau der Grund war, dass ich nach Anger radelte, es kam durchaus vor, dass ich ohne Grund nach Anger radelte, aber ich glaube, an diesem Tag war ich zum Sportplatz unterwegs, um meinen Onkel zu treffen, meinen Onkel traf man immer am Sportplatz, der Fußball war sein Leben, auch wenn er sich damit nicht sein Leben verdiente. Aber ich kam beim Sportplatz nicht an, denn ich traf Mitterbichler, ja, so war es, ich fuhr am Dorfplatz von Anger vorbei, der ein Anger ist, eine kleine Wiese, dann blickte ich kurz zurück, ich weiß nicht wieso ich zurückblickte – Don’t look back in Anger! – jedenfalls sah ich bei diesem Blick zurück Mitterbichler stehen, Mitterbichler, auch gerade achtzehn geworden, mit seinem gerade erworbenen Wagen, ich fuhr zurück, oder fuhr er zu mir, so genau weiß ich das nicht mehr, jedenfalls ließ ich mein Fahrrad stehen und stieg zu ihm in den Wagen, er fuhr los, er sagte:
„Das Gute an Anger ist, dass es eine Autobahnauffahrt nach München gibt, aber keine Abfahrt. So ist man schnell in München, aber nicht so schnell zurück.“
„Du willst nach München fahren?“
„Natürlich.“
Er bog auf die Autobahn, die direkt neben dem Ort vorbeiführt, drückte aufs Gas und ließ dazu Oasis – Don’t Look Back in Anger laufen, in Dauerschleife, bis nach München. Mitterbichler trug eine Sonnenbrille mit rötlichen Gläsern, das fällt mir jetzt wieder ein während ich es erzähle, und er sang lauthals mit, als eine Art bayrischer Noel Gallagher. Wir brausten die Autobahn entlang Richtung Westen, Richtung München, Richtung Freiheit.

In München hingen wir zunächst im Englischen Garten rum, dann gingen wir in Schwabing von Kneipe zu Kneipe, ich erinnere mich an Mitterbichlers erwartungsvolle Blicke jedesmal wenn wir eine neue Kneipe betraten, als erwarte ihn etwas ganz Besonderes, der Mythos Schwabing, die große Freiheit, alle schönen Frauen dieser Welt, die ihm all seine Träume erfüllen. Wir tranken und tranken, ich hielt zu meinem Glück nicht mit seinem Tempo mit, denn irgendwann war Mitterbichler sturzbetrunken, und so toll ich es fand, so unvermittelt mitten in Schwabing unterwegs zu sein, so unangenehm empfand ich es mit zunehmender Dauer, mit Mitterbichler unterwegs zu sein. Irgendwann torkelten wir aus der letzten Kneipe, hart aus unseren Träumen gerissen, Mitterbichler wusste erstaunlicherweise noch, wo der Wagen stand, wir klappten die Sitzlehnen um und versuchten zu schlafen, aber uns fröstelte, zwischendurch öffnete Mitterbichler die Tür und kotzte auf die Straße, ich tat kein Auge zu, es war schlechte Luft im Wagen, irgendwann stieg ich aus dem Wagen, ich wäre am liebsten gegangen, um mich alleine durchzuschlagen, aber ich tat es nicht, stattdessen fuhren wir verkatert nach Anger zurück, Mitterbichler gab wieder Don’t look back in Anger rein, aber schon bei Brunnthal machte er die Musik wieder aus, es war noch immer schlechte Luft im Wagen, an einem Ärmel von Mitterbichlers Jacke – sie war braun und hatte einen roten, einen gelben und einen weißen Streifen über der Brust und an den Ärmeln (erstaunlich, wie genau ich mich erinnere) – an einem Ärmel dieser Jacke hingen Reste von seinem Erbrochenen, dass er sich vom Mund gewischt hatte.
„Bist du noch im Fußballverein?“ fragte ich, als ich neben der Autobahn einen Fußballplatz sah.
„Ja, und bei der Musikkapelle. Heute Nachmittag Spiel, heute Abend Probe.“
Die Fahrt ging schweigend weiter. Mitterbichler bewies Durchhaltevermögen. In seinem Zustand fuhr er uns sicher nach Anger zurück. Als wir von der Autobahn abfuhren, sagte er:
„Irgendwann hau ich endgültig ab von hier, nach München, oder vielleicht sogar nach London, Manchester. Aber jetzt mal back to Anger.“

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Komischl (wie der Erste Weltkrieg begann)

aus den kürzlich (wieder)entdeckten Memoiren des kaiserlich-königlichen Oberstleutnants Rudolf Bertl, die ein völlig neues Licht auf die österreichische Kriegserklärung im Sommer 1914 werfen:

Ich saß im Zug von Wien nach Bad Ischl. Der Kaiser hatte mich eingeladen in seine Sommerresidenz. Was wollte er? Wollte er mir schmeicheln? Suchte er in seiner Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, bei mir Rat? Eines war sicher: Ich unterstützte die These des unausweichlichen Kriegs, da mochte der Alte noch so viel vom Frieden reden.

„Mein lieber Bertl, seien Sie gegrüßt!“ hieß er mich persönlich am Bahnhof willkommen. Wir spazierten mit dem kaiserlichen Tross zu seiner Villa. Der Kaiser war alt aber fröhlich an diesem Tag. Eine junge Frau mit ihrem Hund kam uns entgegen, und als sie an uns vorbeigegangen war, sagte er: „Ein so ein fesches Dirndl mit ihrem Hunderl! Überhaupt, das Ischl, so griabig mit seinen putzigen Häuserln und den lieben Menscherln, und den Bergerln ringsherum!“

Ich muss wohl etwas komisch geschaut haben, denn der Kaiser meinte, nachdem er mich mit seinen Blicken geprüft hatte: „Bertl, schaun’S ned so komisch! Ist es Ihnen vielleicht unangenehm, dass ich in Ischl alle Hauptwörter mit einem L verniedliche? Daran müssen Sie sich gewöhnen! Das mach ich hier so, schließlich sind wir in Ischl und nicht in Isch. Im übrigen würd ich auch zu Wien gern Wienerl sagen, aber dort kann ich mich zusammenreissen. Sein’S froh, dass Sie schon Bertl heißen, denn den da hinten – er zeigte auf General Hermann Hinterstoisser, der uns auch begleitete – denn nenn ich immer Hinterstoisserl.

Daraufhin, in einem Anflug von Jugendlichkeit, fing er zu singen an und trällerte folgendes Lied für den Rest des Weges:

Übers Bacherl bin i gsprunga
übers Wieserl bin i grennt
und da hat mi mei liabs Dirnderl
an mein Juchizer glei erkennt

Später, wieder in Wien, als der unausweichliche Krieg längst in vollem Gange war, saßen wir bei einer Lagebesprechung mit dem Alten. Mittlerweile hatte er sich geistig vollkommen von dieser Welt verabschiedet, obwohl er immer noch Tag und Nacht über den Akten brütete. Bei dieser Besprechung sank er plötzlich in seine Stuhllehne und stieß einen sehnsuchtsvollen Seufzer aus, dem er ein „Komm Ischl!“ folgen ließ. Ich verstand in diesem Moment, der alle am Tisch verwirrte, komischl statt Komm Ischl und dachte: Bald schlägt seine letzte Stunde, jetzt verniedlicht er nicht nur Hauptwörter mit einem L, sondern auch Eigenschaftswörter. Und das mitten in Wien! „Schaun’S ned so komischl, Bertl: Wenn’s Kriegerl sein muss, muss es sein!“ sagte er mir mit seinen müden Blicken.

Da, wo ich gerade gerne bin

Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich gerne woanders wäre als da, wo ich gerade bin. Dann halte ich inne und spüre zu meinem Erstaunen, dass ich gerade da gerne bin, wo ich gerade bin. Schließlich habe ich entschieden, dass meine Füße mich da hintragen, wo ich gerade bin.

Sein, wo man ist, das ist eine Sache, die gar nicht so leicht festzustellen ist, denn ich bin überall und nirgends, an irgendeinem Ort im Universum, den ich glaube, bestimmen zu können. Früher, als die Erde eine Scheibe war, da blieb man besser wo man ist, ohne lange zu fragen, wo man überhaupt ist. Nur die sehr Mutigen wagten sich an die Ränder vor, auf die Gefahr hin, hinunterzufallen. Heute ist die Erde eine Kugel, und ich brauche keine Angst mehr zu haben, von ihr hinunterzufallen, und trotzdem habe ich Angst. Keine Angst mehr vor dem Hinunterfallen, eine diffuse Angst, aber eine so große Angst, dass ich vor dieser Angst am liebsten davonlaufen möchte, ich würde bei diesem Davonlaufen sogar riskieren – wenn die Erde noch eine Scheibe wäre – an ihrem Rand hinunterzufallen, so groß ist diese Angst.

Doch vielleicht verursacht gerade das meine Angst, dass die Erde keine Scheibe mehr ist, sondern eine Kugel, dass es keinen Anfang und kein Ende gibt, sondern dass alles immer weiter geht, und wenn ich das Universum einmal umrundet habe, ich an seinem Anfang stehe. Es ist nicht die Angst vor dem Tod, die ich spüre, sondern die Angst vor dem Leben, dass das Blatt, das im Herbst vom Baum fällt, im Frühling wieder an ihm wächst, es ist ein neues Blatt, es ist anders als das alte Blatt, und doch trägt das neue Blatt das alte in sich. Ich bin ein eigener Mensch, und doch trage ich die Menschheit in mir, und eines Tages wird mein Leib, mit dem ich mich hier auf der Erde bewege, zur Erde sinken wie das Blatt vom Baum, ich werde dadurch neues Leben ermöglichen. Eines Tages wird sogar der Baum mit seinem mächtigen Stamm zur Erde sinken, eines Tages wird sogar die Erde im All versinken. Aber noch bin ich hier, bewege mich auf der Erde.

Heute morgen bin ich erwacht und dachte: Aha, ich habe mich in der Nacht nicht in den Weiten des Alls verloren, sondern bin wieder auf der Erde gelandet. Ich recke und strecke mich, ich sehe meine Haare im Spiegel, zerzaust von ihrem nächtlichen Ausflug ins All und sage zu mir: Ich bin gerade gerne da, wo ich gerade bin.

Welt Wer Worte