Zwei Menschen sitzen auf Stühlen wie Menschen auf Stühlen sitzen, die Beine an den Hüften und Knien abgewinkelt, den Rumpf über der Hüfte aufrecht haltend beziehungsweise leicht an die Lehne gelehnt, mit dem Kopf darüber aufgehängt, eben in einer Haltung, die man als Sitzen bezeichnet, als einer der beiden Menschen, dessen grammatisches Geschlecht übrigens männlich ist und dessen natürliches Geschlecht uns nicht weiter zu interessieren braucht außer dass man es nicht automatisch als männlich annehmen sollte, als einer der beiden Menschen sagt:
„Ich sitze auf diesem Stuhl. Ich besitze ihn.“
Was den anderen Menschen, für den geschlechtstechnisch dasselbe gilt wie für den einen Menschen, was den anderen Menschen derart erbost, dass er von seinem Stuhl aufspringt und ruft:
„Stehen Sie auf von diesem Stuhl, Sie Besitzer! Ich bin sein Eigentümer, ich bestehe darauf! – Wie kommen Sie überhaupt auf die Idee, diesen Stuhl zu besitzen?“
„Weil ich auf ihm sitze.“
„Ich habe Ihnen den Stuhl nur freundlich überlassen, damit Sie darauf sitzen können, woraus Sie niemals ein Besitzrecht ableiten können!“
„Hat man, wenn man auf etwas sitzt, kein Besitzrecht auf das, worauf man sitzt?“
„Natürlich nicht!“
„Aber Ihre Frau, pardon: Ihr Partnermensch, saß doch vorher auf dem Stuhl, stand auf und bestand darauf, dass ich mich auf den Stuhl setze, sie beziehungsweise er überließ mir den Stuhl also zum Besitzen.“
„Sie meinen also, meine Frau, pardon: mein Partnermensch, ist mittelbarer Besitzer dieses Stuhles und hat Ihnen den Stuhl zum unmittelbaren Besitz überlassen?“
„Vermutlich meine ich das.“
„Bilden Sie sich ja nicht ein, mit dieser Meinung durchzukommen! Ich als Eigentümer dieses Stuhls werden Ihren unmittelbaren Besitzanspruch niemals anerkennen, genausowenig wie ich den Besitzanspruch meiner Frau, pardon: meines Partnermenschen, sei er mittelbar oder unmittelbar, niemals anerkennen werde!“
Es würde zu weit führen, zu erörtern, wieso ich in Daglfing war, zumindest in diesem Zusammenhang, deshalb dazu ein anderes Mal, jedenfalls musste ich zurück nach Trudering, was nicht einfach war, denn Daglfing ist von Trudering durch zwei Eisenbahntrassen und eine Autobahn getrennt, die es zu über- oder unterqueren gilt, ich war zu Fuß unterwegs, das muss nun erwähnt werden, die Benützung von Eisenbahntrassen kam nur bedingt und die von Autobahnen gar nicht in Frage.
Ich stand in Daglfing, in der Nähe der Trabrennbahn, um genauer zu sein, direkt neben der Trabrennbahn, nur durch einen hohen Zaun von ihr getrennt, ich sah ein müdes Pferd, dass mich nicht und ich es nicht beachtete, ich hatte keine Zeit für Beachtung, musste ich doch dringend nach Trudering, es waren, wie gesagt, zwei Eisenbahntrassen und eine Autobahn zu über- oder unterqueren, ich ließ das müde Pferd unbeachtet zurück und rannte Richtung Autobahn, die ich bald erreichte, nun schwenkte ich nach links, rannte die Autobahn entlang, um nach Möglichkeiten Ausschau zu halten, sie zu über- oder zu unterqueren, während diesen Ausschauhaltungen überquerte ich zu meiner Erleichterung bereits die erste Eisenbahntrasse, kurz nach der Überquerung der Eisenbahntrasse bog ich nach rechts in eine kleine Seitenstrasse ein, Übermut oder Intuition ließen mich in diese kleine Seitenstrasse einbiegen, ich habe keine andere Erklärung dafür, es ist nicht zu erklären, warum ich in diese kleine Seitenstrasse einbog, an der Hunde zu beiden Seiten bellten, ich las: Tierheim, hier sind also die Hunde, die keiner will, zwischen Eisen- und Autobahn, ich stoppte kurz, dachte aber gleich wieder an meinen dringenden Auftrag, nach Trudering zu kommen, der noch lange nicht beendet war, schließlich galt es noch eine Auto- und eine Eisenbahn zu über- oder unterqueren, ich setzte mein Rennen fort, erreichte die Autobahn:
Diese Unterquerung, obwohl ich sie zunächst zögernd anging, dann aber sehr hastig durchführte, erleichterte mich ungemein, ich hatte das Gefühl, nun den entscheidenden Schritt getan zu haben, um nach Trudering zu kommen, nichts mehr würde mich davon abhalten können, nach Trudering zu kommen, keine Autobahn mehr und auch keine Eisenbahn, obwohl ich diese noch zu über- oder unterqueren hatte, ich hatte das Gefühl, während ich durch einen Grünstreifen zwischen einem Industriegebiet und einer Siedlung entlanglief, dass es auf eine Unterquerung der Eisenbahn hinauslaufen würde, doch das beunruhigte mich nicht, im Gegenteil, jeder Schritt beruhigte mich und brachte mir Gewissheit, bald nach Trudering zu gelangen.
Ich betrachte das Bild
und bilde mir ein
das sei Bildung
bis ich begreife
dass Bildung heißt
mir selbst ein Bild zu machen
und nicht nur andre Bilder
zu betrachten
Er war ein Zeitgenießer
weil er die Zeit
einst sehr genoss
jetzt ist er
ein Zeitgenosse
weil er die Zeit
nicht mehr genießt
weil ihn die Zeit
jetzt sehr verdrießt
ist er nicht nur
Zeitgenosse
sondern vor allem
Zeitverdrießer
In ferner Zukunft
wird man sagen
dass ihn die Zeit
einst sehr verdross
das er ist
ein Zeitverdrosse
Ich erwachte in meinem Bett, es war schön behaglich warm, in diese Behaglichkeit kam die Geschichte zu mir, Ideen in Worte geschliffen, ich war sehr zufrieden, die Geschichte erhöhte die Behaglichkeit, sodass ich wieder eindöste, später erwachte ich dann und stand auf, ich ging auf den Balkon und reckte und streckte mich und begrüßte den Tag, dann ging ich ins Bad, unter der Dusche fiel mir die Geschichte wieder ein, die am frühen Morgen zu mir ins Bett gekommen war, was heißt sie fiel mir wieder ein: Ich dachte an sie, aber sie fiel mir nicht wieder ein. Die Ideen, in geschliffene Worte gebettet, waren weg. Ich legte mich zurück ins Bett, in der Hoffnung, dass sie noch da sei, aber sie war nicht mehr da, sie war offensichtlich mit mir aufgestanden, oder sie war vor mir aufgestanden, während ich wieder eingedöst war, jedenfalls hatte sie mich verlassen, ich spürte das jetzt schmerzlich, wo ich sie bei mir haben wollte und sie nicht mehr da war, ich spürte, dass ich krampfhaft nach ihr verlangte, sie nicht losließ, ich versuchte, sie loszulassen, um ihr zu ermöglichen, wieder zu mir zu kommen, aber sie kam nicht, bis heute nicht, und es ist ungewiss, ob sie jemals wieder kommt, genauso wie es ungewiss ist, ob sie jemals nicht wieder kommt, denn sie ist da, nichts geht verloren, auch wenn sie in meiner Wahrnehmung verloren ist.
Vorderbrandner sagt, er habe viele Rückfragen zum Text Alfrederika erhalten. Die meistgestellte Rückfrage war: Wieso steht am Ende der Geschichte ausgerechnet die im Tierheim weilende Dackeldame Berta? Vorderbrandner sagt, er habe auf die meisten dieser Rückfragen nicht geantwortet, auf eine aber habe er geantwortet, weil es ihm aus einem Gefühl heraus opportun erschien, auf eine zu antworten. Er habe mit folgender Antwort geantwortet: Die im Tierhiem weilende Dackeldame Berta steht am Ende der Geschichte, weil es das Ende der Geschichte ist. Er hätte diese Begründung natürlich ausführlich begründen können, hätte anfügen können, das Eric Rohmer einen Film dort beendete, wo er mit dem nächsten anfangen wollte, aber ihm schien seine Antwort ausreichend, mehr noch, sie schien ihm wohlbegründet, sei es doch die Freiheit des Künstlers, sein Werk dort zu beenden, wo er es will, ohne dies begründen zu müssen, und überhaupt, jedem Ende wohnt ein Anfang inne, es gibt überhaupt kein Ende ohne Anfang, vielleicht, das fällt mir jetzt ein, sagt Vorderbrandner, sollte man das Ende – als Gegensatz zum Anfang – Ausfang nennen, man wird von einer Geschichte am Anfang gefangen genommen, aber am Ende, am Ausfang, wieder freigelassen. Es sei überhaupt nicht wichtig, wie eine Geschichte anfange, ebenso wenig sei es wichtig, wie sie ausfange, es sei überhaupt nicht wichtig, ob eine Geschichte sei oder nicht, sie ist sowieso, wenn man sie geschrieben hat, und wenn man sie liest, soll man sie nehmen wie sie ist, oder sie neu lesen, oder sie neu schreiben, aber nicht den Autor belangen, sie für einen neu zu schreiben.
Alfred ist erfolgreicher Unternehmer. Sein Produkt ist eine Plastikkarte in Goldoptik, genannt Teuercard. Die Teuercard hat sich einen Namen als Wertanlage gemacht, deshalb wird sie auch Goldcard genannt, obwohl sie aus Plastik besteht und nur minimalste Spuren von Gold enthält, man vermutet, die angegebenen minimalsten Spuren von Gold sind ein reiner Marketing-Gag und die Teuercard enthält gar keine minimalsten Spuren von Gold. Es ist also davon auszugehen, dass die Teuercard nichts wert ist, dies wiederum ist eine Aussage ohne Wert, denn etwas hat genau den Wert, den man ihm beimisst. Für mich ist die Teuercard nichts wert, für andere ist sie soviel wert, dass sie alles dafür geben würden, oder, um es wirtschaftsspezifischer auszudrücken: Die Märkte zeigen große Phantasie, was den Wert der Teuercard betrifft.
Alfred hat sein Unternehmen mit dem Produkt Teuercard inzwischen teuer verkauft, um sich auf andere Dinge zu konzentrieren, zum Beispiel auf seine Familie, die aus seiner Frau Erika, seinen beiden kleinen Söhnen Manbert und Rofred und seit kurzem auch aus der Dackeldame Berta besteht. Alfred wollte eigentlich von Kind an aus dem Bert-Fred-Rhythmus seiner Familie ausbrechen – sein Vater heißt Albert, sein Großvater hieß Alfred, sein Urgroßvater hieß Albert, sein Ururgroßvater hieß Alfred, und so geht das zurück seit es Aufzeichnungen gibt. Doch selbst nach intensiven Diskussionen mit seiner Frau Erika kamen sie zu dem Entschluss, ihre Söhne Manbert und Rofred zu nennen, immerhin konnten sie sich dazu durchringen, sie nicht Manfred und Robert zu nennen, aber wieder findet sich Bert und Fred in beider Namen, was Alfred immer wieder niederschlägt. Wieso war er damals nicht fähig, seinen Söhnen andere Namen zu geben? Er schien dem Zwang unterlegen zu sein, seine Söhne Bert oder Fred zu nennen. Gibt es diesen Zwang? Oder bildet er sich diesen Zwang nur ein?
Trotz dieser zwanghaften Probleme in seiner Familie freute sich Alfred auf die Zeit ohne Teuercard, um mehr Zeit für Erika, Manbert, Rofred und auch für Dackeldame Berta zu haben. Aber just an der letzten Sitzung der Geschäftsleitung, an der er teilnahm, um die Dinge final zu übergeben, geschah etwas völlig Unvorhergesehenes: In dieser Sitzung wurde ein Mann namens Albert zum neuen Leiter des Marketings von Teuercard bestellt. Es war ungewöhnlich genug, dass dieser Mann ausgerechnet Albert hieß, aber Alfred verliebte sich in Albert, und zwar so heftig, dass er beschloss, sich von Erika scheiden zu lassen und Albert zu heiraten.
Mittlerweile tobt der Sorgerechtsstreit um Manbert und Rofred, Manbert und Rofred selbst lehnen Albert als ihre neue Mutter ab, Altmutter Erika sagt, Albert könne gar keine Mutter sein, Alfred sagt, man solle sich nicht in geschlechterspezifischen Begrifflichkeiten verlieren, wichtig sei die Geborgenheit, die Albert Manbert und Rofred vermittle und die Erika immer habe vermissen lassen.
Alfred hat jedoch, bei allem Glück mit Albert, nachdem seine erste Verliebtheit und die Flitterwochen nach der Hochzeit vorbei waren, psychologische Beratung aufgesucht, denn er wird den Gedanken nicht los, sich einmal mehr seiner familiären Zwanghaftigkeit unterworfen und ausgerechnet einen Mann namens Albert geheiratet zu haben.
Ungeachtet dieser ersten Eheprobleme bemühen sich Alfred und Albert gerade um die Adoption eines neugeborenen Mädchens, der sie den Namen Alfrederika geben wollen, um das Vakuum zu füllen, dass die verhaltensauffällige und nun im Tierheim weilende Dackeldame Berta hinterließ.
Ich hatte beschlossen, Grund zu erwerben und darauf eine Immobilie zu errichten, bevor Bodenversiegelung gänzlich außer Mode kommt oder sogar verboten wird. Ich stellte jedoch fest, dass mein Kapital in Form von Geld nur für die Errichtung einer bescheidenen Immobilie reicht. Der Grund, den es zu erwerben galt, musste besonders günstig sein, denn eine Kreditaufnahme kam nicht in Frage. Allein der Gedanke, Schulden zu haben, bereitet mir Kopfschmerzen, löst Angstzustände aus, Angstzustände, deren Intensivierung durch tatsächliche Kreditaufnahme ich nicht erleben möchte. Deshalb kam ich auf die Idee, statt einem Ebengrund einen Abgrund zu erwerben, also einen Grund, der sich nicht waagerecht in die Landschaft weitet, sondern senkrecht zu Boden fällt.
Einen solchen Grund hatte ich schnell gefunden, doch bereits die Annäherung an diesen Grund bereitete ernste Schwierigkeiten: Es musste nämlich entweder der Ebengrund unter oder der Ebengrund über dem Abgrund überschritten werden, um sich dem Abgrund zu nähern, doch die jeweiligen Eigentümer der Ebengründe über und unter dem Abgrund verweigerten mir das Betreten ihrer Ebengründe, weshalb ich einen Heißluftballon anmietete, um mich so dem Abgrund zu dessen genauerer Besichtigung zu nähern. Diese aufwändige Annäherung verringerte mein verfügbares Kapital außerordentlich, was mich besorgte, denn es machte den potentiell günstigen Erwerb des Abgrundes unnötig teuer.
Dennoch gab es kein Zurück: Ich begab mich mit einem Ingenieur in den Korb, der am Ballon befestigt war, blies heiße Luft in den Ballon, wir hoben ab und steuerten auf den Abgrund zu, der Ingenieur äußerte sich schon von Weitem skeptisch über die Beschaffenheit des Abgrundes, er bezweifelte, dass es möglich sei, an ihm ein stabiles Fundament zu errichten, an dem eine Immobilie hängen könnte, zugleich meinte er, er sei nicht sicher, ob an Abgründen Baurecht bestehe, hänge doch der errichtete Bau unter dem darüberliegenden Ebengrund, vor allem aber über dem darunterliegenden Ebengrund, dies müsse ich unbedingt juristisch klären, bevor an irgendeine Bautätigkeit zu denken sei. Ich hatte mir meinen Einstieg ins Immobiliengeschäft leichter vorgestellt. Mitten in unser Gespräch schrie plötzlich der Eigentümer des Ebengrundes unter uns: „He, Sie, verlassen Sie sofort den Luftraum über meinem Grundstück, sonst hole ich die Polizei!“ Ich begriff nun, dass ich neben dem Ingenieur auch einen Juristen in den Korb hätte nehmen sollen, es wäre zwar eng geworden im Korb, aber so hätte man die bereits jetzt akut auftretenden Rechtsschwierigkeiten unvermittelt klären können, andererseits hätte das Engagement eines Juristen mein knappes Kapital noch mehr belastet, sodass an einen Baubeginn am Abgrund nicht mehr zu denken gewesen wäre, ich sah mein Kapital zur Neige gehen, ohne Irgendetwas errichtet zu haben, aus lauter Verzweiflung wegen dieser Vorstellung vergaß ich, heiße Luft in den Ballon zu blasen, der Ballon sank am Abgrund entlang und näherte sich bedrohlich dem Dach des Hauses, dass der Eigentümer des Ebengrundstückes unter dem Abgrund errichtet hatte, als der Ballon plötzlich und abrupt zusammensackte und sämtliche heiße Luft aus ihm entwich, der Ingenieur und ich krachten daraufhin mit unserem Korb auf das Dach des Hauses am Ebengrundstück unter dem Abgrund. Bevor die zusammensackende Ballonhaut uns zudeckte, schaute ich nach oben, ich sah den Eigentümer des Ebengrundes über dem Abgrund mit einem Bogen in der Hand, es ist zu vermuten, dass er einen Pfeil auf den Ballon abgeschossen hatte, aber natürlich kann ich das nicht beweisen, es ist nur eine Vermutung, eher ist mir mein fahrlässiges Nichtheißeluftindenballonblasen zur Last zu legen, so ist zu vermuten, jedenfalls kamen der Ingenieur und ich in unserem Korb auf dem beschädigten Dach zu liegen, immerhin, wir kamen auf dem Dach zu liegen und schlitterten nicht am Gebäude entlang weiter, um krachend am Ebengrund zu landen, so blieben wir nahezu unverletzt, ich schob unter mühsamen Bewegungen die Ballonhaut zur Seite und sah den Eigentümer des beschädigten Daches unten auf dem Ebengrund stehen, mir lag die Frage auf der Zunge, ob sein Haus jetzt dachlos sei, hatte ich doch nicht den Mut, den Schaden selbst zu inspizieren, doch der Ingenieur hielt mich vor solchen Äußerungen zurück, der Eigentümer des Ebengrundes unter uns sprach heftig erregt in sein Mobiltelefon, vermutlich sprach er mit seinem Anwalt, die Polizei war längst unterwegs, ich sah heftige Kosten auf mich zukommen, die definitiv mein ganzes Kapital auffressen würden, mehr noch, ich würde wohl Schulden aufnehmen müssen, das Projekt Bau am Abgrund war gestorben, ich fühlte mich mittel- und wehrlos, quasi obdachlos, obwohl ich auf dem Dach saß, ich kauerte mich in den Korb, um der harten Realität kurz zu entfliehen, doch der Korb würde mir nicht lange Schutz bieten, ich begriff, dass nun, ohne Kapital, nichts half als die bedingungslose Kapitulation.
Ungläubig starre ich auf das Grün
während die Hunde bellen
und der Strom
am Grün vorbeirollt
in beide Richtungen.
Gegen einen zu gehen
heißt mit dem anderen zu gehen
ein Wechselstrom
in beide Richtungen
den es zu queren gilt
unten durch
wo ich das Grün mit
und den Himmel über mir
verliere
wo ich mich
– so die Sorge –
selbst verliere
ohne Himmel, ohne Grün
gehe ich quer
und renne ihm entgegen
dem Lichtschein
am Ende des Tunnels
und nach dem Quergang
zu meinen großen Erstaunen
das Grün mit
und der Himmel über mir.
Wir hörten stundenlang Confusion von ELO, mein Onkel und ich.
Jedesmal wenn der Song zu Ende ging, hob mein Onkel die Nadel, schwenkte sie zurück zum Anfang und ließ sie wieder auf die Platte gleiten, sehr darauf bedacht, genau den Anfang zu erwischen, um unnötiges Geschrei zu vermeiden, denn auf den ersten Song Shine a Little Love vor Confusion reagierte ich fast so allergisch wie auf Glasscheiben. Ich saß währenddessen da mit dem Plattencover in der Hand, das ich fasziniert betrachtete, es gab mir Geborgenheit, es gibt mir jetzt noch Geborgenheit, es zeigt den jungen Mann mit Turban, der das Raumschiff betrachtet, ich sitze jetzt genauso über ihm wie vor über vierzig Jahren, wie sollte es auch anders sein, ich bin noch immer derselbe Junge, ständig in Angst und Sorge, durch dicke Glasscheiben von der Liebe getrennt zu werden: You lost your love and you just can’t carry on, you feel there’s no one there for you to lean on.
Confusion
Irgendwann endete dieser wunderbare Confusion-Tag bei meinem Onkel. Meine Eltern kamen aus der Stadt zurück und holten mich ab, sie fuhren mit mir nachhause in den Chiemgau. Ich hatte mich beruhigt, so erzählt meine Mutter, ich summte während der Fahrt Confusion, so gut ich das mit drei Jahren konnte, zuhause machte ich Fortschritte beim Wiedererkennen meiner Eltern, und alles geriet in Vergessenheit. Nur meine Angst vor dicken Glasscheiben blieb. Ich hatte panische Angstattacken, vor allem wenn meine Mutter außer Haus ging und ich sie durch das Fenster fortgehen sah.
Als ich ins Schulalter kam, nahm mich meine Großmutter zur Seite und sagte mir eindringlich: „Bub, du musst funktionieren, jetzt kommst du in die Schule, wo kommen wir da hin, wenn du dich dauernd so aufführst? Willst ins Irrenhaus kommen?“ Ich bekam daraufhin panische Angst vor meinen Angstattacken. Wenn ich sie hochkommen spürte, rannte ich tief in den Wald neben unserem Haus, lief weinend zwischen den Bäumen herum, und als ich mich beruhigt hatte, schlich ich leise nachhause.
Als ich vierzehn war, träumte ich davon, zu meinem Onkel nach München zu ziehen. Er wohnte noch immer im Arabella-Hochhaus, und ich hoffte, die Pet Shop Boys, meine damaligen Idole, würden in den Musicland-Studios ein Album produzieren, wo ich sie dann treffen könnte. Doch mitten in diesen Traum platzte die Nachricht, dass mein Onkel verschwunden ist, spurlos, damals konnte man noch, ohne Handy, spurlos verschwinden, seine Wohnung fand man vollkommen leer vor, nur eine Schallplatte in der Hülle lag auf dem Boden, Discovery von ELO, mit einem beschriebenen Zettel darauf: Für meinen Neffen Emil. Niemand konnte mit dieser Nachricht etwas anfangen, auch ich nicht, ich wollte nichts mit ihr anfangen, ich nahm sie wahr, tief in meinen seelischen Tiefen, in die ich nicht hinabsteigen konnte, die Nachricht ging in der allgemeinen Trauer verloren, im Schluchzen meiner Mutter um ihren Bruder.
Bald darauf machten die Musicland-Studios zu. Meine Angstattacken kehrten heftig zurück, ich konnte sie nicht mehr kontrollieren. Nach ein paar Jahren, ich hatte unter anderem einen Aufenthalt in der Psychiatrie hinter mir, erklärte man meinen Onkel für tot. Discovery mit dem Zettel meines Onkels drauf ging bei irgend einem Umzug verloren. Ich habe viele Umzüge hinter mir. Denn ich flüchtete nun nicht mehr nur in den Wald vor meinen Angstattacken, sondern in andere Länder und Städte. Um wieder in München zu landen. Um hier langsam zu beginnen, meine Confusion anzusehen und zu sortieren.
Ich betrete die Wiese am Wasser mit den Bäumen. Die Sommersonne steht hoch am Himmel. Ein leiser Wind säuselt durch die sattgrünen Blätter der Bäume und begleitet das Rauschen des Baches. Mein Handy vibriert: Anna-Sophia fragt, ob wir uns treffen können. Darunter sehe ich noch einmal die Nachricht von Jeanne: Sie ist auf dem Rückweg aus Frankreich. Johanna winkt mir aus dem Gras: Bestanden! ruft sie. Weiter hinten sehe ich Nana und Boris, wie sie ein Bad nehmen.