Bodenbekehrung

ein Kommentar zu Unbekehrter Bühnenboden

Lebski (dargestellt von Georg Stürzer) bei der Bodenbekehrung

Vorderbrander, der sich selbst als fundierten Feuilletonisten bezeichnet, hat meinen Text Unbekehrter Bühnenboden als ein großes Stück Poesie bezeichnet, jedoch kritisch bemerkt, dass ihm mein Umgang mit dem Begriff Bekehrung zu eindeutig sei, wo doch der Text als Lobhymne auf die Doppeldeutigkeit der Sprache daherkommen soll.

Protagonist Lebski, ein Mensch mit polnischem Namen – der Name bedeutet schlau und gewitzt – verursacht durch sein Bodenbekehren mit dem Besen ein Staubaufwirbeln, ohne den Boden dabei sauber zu machen. Zweifelsohne bekehrt er jedoch den Boden, sodass der Boden nicht mehr als unbekehrt bezeichnet werden kann, sondern als bekehrt bezeichnet werden muss.

Ich verlange von Lebski, so Vorderbrandner weiter, dass er den Boden ordentlich bekehrt, was eine grobe Herabwürdigung der Bodenbekehrung Lebskis bedeutet, denn wie könne ich beurteilen, wann ein Boden ordentlich bekehrt ist. Nur Lebski mit dem Besen in der Hand kann seine Bekehrung beurteilen. Aber Lebski – und hier zeigt sich seine Schläue und Gewitztheit – will seine Bekehrung gar nicht beurteilen, er macht die Bekehrung um ihrer selbst Willen, er begreift sie als einen zarten Akt zur Durchdringung des Lebens, und somit kann und muss der Boden nach Lebskis Bekehrung als bekehrter Boden bezeichnet werden, denn der Sauberkeitsgrad eines Bodens ist keine Kategorie, mit der seine Bekehrtheit definiert werden kann. Ein bekehrter Boden ist kein gekehrter Boden. Ein bekehrter Boden ist viel mehr. Und somit muss festgestellt werden, dass der Abend im alten Theater mit Lebski auf bekehrtem Bühnenboden stattfand.

Er hoffe, so schließt Vorderbrandner seine Ausführungen, hiermit alle Eindeutigkeiten beseitigt und den Vorgang der Bodenbekehrung in all seinen Doppeldeutigkeiten erörtert zu haben.

Unbekehrter Bühnenboden

Der Boden war uneben und hart zu bekehren, wir waren im alten Theater, um die Vorstellung vorzubereiten, ich mochte das alte Theater, meine tiefsten Träume offenbarten sich in ihm sobald ich es betrat, vor allem wenn ich seine Bühne betrat, jedenfalls glaubte ich das zu spüren, trotzdem hatten wir das Problem, das der alte unebene Bühnenboden hart zu bekehren war, ich drückte Lebski den Besen in die Hand, ich wusste nicht, ob er verstanden hatte, was ich von ihm wollte, es schien so, als habe er es verstanden, denn er begann den Boden zu bekehren, es sah nach nutzloser Tätigkeit aus, wie er mit dem Besen ruckelnd den unebenen Boden entlangschleifte, es war ein Staubaufwirbeln und kein Saubermachen.

Ich musste nochmal weg, Requisiten besorgen, die mir erst jetzt eingefallen waren, diese Requisiten waren unbedingt notwendig, um den Abend im alten Theater zu einem gelungenen zu machen, also sagte ich zu Lebski: Ich setze auf dich, dass du den Boden ordentlich bekehrst! Ich gehe derweil in die Stadt, um Requisiten zu besorgen.
Du setzst auf mich? fragte Lebski. Was soll das heißen?
Dass ich mich auf dich verlasse.

Ich verließ also Lebski, um in der Stadt Requisiten zu besorgen. Die Spätherbstsonne hatte einen Weg durch den Hochnebel gefunden und bestrahlte sanft die alten steinernen Gassen. Ich schritt federleicht dahin, mit einer Leichtigkeit, die das Leben wie einen Traum erscheinen ließen. Ich wandelte hoch zur Burg, wo ich die sonnenbeschienenen Dächer der Stadt betrachtete. Oben bei der Burg beschloss ich, die Requisiten doch nicht zu besorgen. Sie kamen mir plötzlich überflüssig vor. Ich würde den Abend gänzlich ohne Requisiten bestreiten, Requisiten würden nur ablenken von dem, was ich an diesem Abend erzählen will, ich würde mich auf mich beschränken, und auf mein wunderbares Leben, das mir alles gibt, was ich brauche.

Doch machte ich mir plötzlich Sorgen, dass Lebski mich nicht richtig verstanden hat, ich muss klareres Deutsch mit ihm sprechen, sagte ich zu mir, eindeutige Ansagen machen, obwohl ich ein Freund der Doppeldeutigkeiten bin, mit diesem Entschluss ging ich zurück ins alte Theater, wo Lebski, mit dem Besen in der Hand auf unbekehrtem Bühnenboden stand und mich mit folgenden Worten empfing: Erst hast du dich mich verlassen, und jetzt, bitte, setzt du dich auf mich.

Ich wusste nicht, was er meinte, seine Worte waren voller Doppeldeutigkeiten, was ich schön fand, genau dafür mochte ich Lebski, dass er die Sprache mit seinen Doppeldeutigkeiten bereicherte. Das einzig Eindeutige war, dass der Abend im alten Theater auf unbekehrtem Bühnenboden stattfinden würde, was mich zu dem Entschluss führte, den Abend gemeinsam mit Lebski auf unbekehrtem Boden zu bestreiten.

Pachel und Pö

Dem König gefiel zweierlei: die Musik, die an seiner Tafel erschallte, und seine neue Unterhose. Deshalb rief er den Lakai und fragte: „Von wem ist die Musik, die an meiner Tafel erschallt? Und von wem ist meine neue Unterhose?“
„Die Musik“, entgegnete der Lakai, „ist von einem gewissen Pachel, mein König, die Unterhose von einem gewissen Pö.“
„Die beiden sofort zu mir kommen lassen!“ befahl der König.

Hektische Betriebsamkeit brach im Hofstaat aus, um Pachel und Pö möglichst schnell zum König bringen zu lassen. Pachel hatte man gleich gefunden, er probte am Organ der örtlichen Kathedrale an neuer Musik, während Pö nicht aufzufinden war. Die ganze Stadt wurde durchkämmt, doch man fand ihn erst am Rand der Stadt bei einem Bordell, wo er gerade in eine Schlägerei verwickelt war. In seinem nicht sehr präsentablen Zustand führten sie Pö zur Residenz, wo Pachel sich schon im Audienzzimmer befand. Sodann, als beide anwesend waren, trat der König hinzu und sprach: „Bel Oeuvre, meine Herren! Besser würde es kein Franzose hinkriegen! Sie beide dürfen künftig den Zusatz bel an ihren Namen tragen!“

Der anwesende Hofbeamte eilte sogleich, um die Namensänderungen urkundlich eintragen zu lassen. Pachel verneigte sich vor dem König, voll von innerer Freude, künftig ein Pachelbel zu sein, er sollte mit seinem neuen Namen als Komponist und Organist in die Geschichte eingehen, während Pö fragte: „Von was für einem Oeuvre sprecht ihr?“
„Von der Unterhose, die ihr mir geschneidert!“ sagte der König.
„Ah, verstehe! Gefurzt euch wohl, Majestät!“
„Was für ein Unhold!“ rief nun der König: „Ich scheiß auf seine Unterhose!“

Da schiss der König tatsächlich in die von Pö geschneiderte Unterhose, sodass es im Audienzzimmer fürchterlich zu stinken begann, hatte der König doch am Vortag Hammelbraten gespeist. Die eben noch herrschende feierliche Stimmung war verdorben, es half auch nicht, dass Pachelbel zurückgerufen wurde, um mit der königlichen Hofkapelle eines seiner Stücke zu spielen.

Während die Musiker spielten, riss sich der König die Kleider vom Leib, inklusive Perücke und Unterhose. Ungerührt stand er schließlich in seiner Nacktheit da, während Lakaien seinen Popo putzten. Pö rief, während er abgeführt wurde: „Wohlgetan, Majestät – Unterhose und Scheißen liegen nah beisammen, wenngleich ich empfehle, die Unterhose künftig beim Scheißen beiseite zu schieben.“

Erstaunlicherweise hat der König die Adelung Pös nach den Vorfällen im Audienzzimmer nicht zurückgenommen. Pö durfte sich fortan Pöbel nennen. Die von Pöbel für den König geschneiderte und vom König angeschissene Unterhose, Pöbels Meisterwerk sozusagen, ging allerdings in den Wirren der Geschichte verloren. Man erzählt sich, Pöbel habe keine weiteren Unterhosen noch sonstige Kleidungsstücke mehr für den König geschneidert, sondern für die Damen am Stadtrand Unterwäsche entworfen, in der sie ihre Freier empfingen.

Pachelbel
Pöbel

 

Ephriweh, überall

Ich wachte auf und hatte zunächst eine verträumte Säuselei in meinen Ohren. Es klang nach Lottofee. Dann jedoch ging die Säuselei in tanzende und springende Basstöne über, ich versuchte die Basstöne zu erfassen, ich hörte dreimal die Abfolge C-D-G, abgeschlossen mit einem A-G-F-Diminuendo, ich kann es aber nicht genau sagen, ich fühle Musik nur und denke sie nicht, deshalb berührt Musik mein Innerstes und nicht nur meinen Kopf.

Ich hatte keine Ahnung, was die verträumte Säuselei und die tanzenden und springenden Basstöne mir sagen wollten, ich stieg aus dem Bett und begann den Tag wie üblich mit einem Blick in den Badezimmerspiegel. Musik, dachte ich mir, ja, Musik, während mich die verträumte Säuselei und die tanzenden und springenden Basstöne weiter verfolgten, ich dachte an die Pastorale von Beethoven, an seine sechste Sinfonie, aber ich konnte nur denken, nicht fühlen, ich war voll von verträumter Säuselei und tanzenden und springenden Basstönen, die Basstöne wurden nun dominanter und drängten die Säuselei in den Hintergrund, ich nahm meine Gitarre in die Hand und versuchte, die Basstöne zu spielen:

Es begann kläglich, doch ich spielte mich in einen Rausch, ich konnte nicht mehr aufhören, es war ungewiss, ob ich ein Ende finden würde, als ich plötzlich eine Frau singen hörte, eine tiefe zarte Frauenstimme, die eine Melodie zu den tanzenden und springenden Basstönen sang, mündend in den Chorus: Oh I, I wanna be with you, Ephriweh – oh ich, ich will mit dir sein, Ephriweh.

Das hätte ich nun als vollkommenen Unsinn abtun können und mit diesem vollkommenen Unsinn diese Aufzeichnungen hier beenden können, wenn ich schon mein Gitarrenspiel der Basstöne nicht beenden konnte. Ich beendete jedoch, zu diesem Zeitpunkt völlig unerwartet, das Gitarrenspiel der tanzenden und springenden Basstöne, und jetzt fing alles an. Ich begriff, dass die tanzenden und springenden Basstöne einem Lied entstammen, dass ich bereits als Kind gehört habe: Der Knabe springt über sonnenbeschienene grüne Wiesen und hört die verträumte Stimme singen: I wanna be with you, Ephriweh. Wer ist Ephriweh? Ephriweh bin ich selbst, aber in einer höheren, freieren Dimension. Nein – das ist Unsinn: Ephriweh bin ich und bin nicht ich, Ephriweh ist was ich weiß und was ich nicht weiß, und es ist Unsinn, etwas über Ephriweh zu schreiben. Bin ich nun endgültig an dem Punkt angelangt, diesen Unsinn zu beenden?

Can you hear me calling out your name? Kannst du mich hören, Ephriweh? Ein spiritueller Meister, der nun zwar überraschend aber nicht unpassend die Szenerie betrat, sagte: Ephriweh ist dein befreites Selbst, vielleicht sogar dein universelles Selbst, aber seine Worte verschallten ins Nichts, denn ich fiel ins Bodenlose, ohne Angst vor dem Aufprall zu haben, weil es keinen Boden mehr gab. Doch der Fall hielt nicht an, ich hörte Stimmen sagen: Ist er nicht sonderbar? Wir hören Ramones, und er hört Fleetwood Mac.

Als meine Füße den Boden wieder erreicht hatten, noch immer von tanzenden und springenden Basstönen durchdrungen, hatte sich das Rätsel gelöst: Fleetwood Mac also, mit dem Gesang von Christine McVie. Sie singt nicht Ephriweh, sondern Everywhere, aber ich höre nur Ephriweh, überall wo ich bin.

Im Dämmerlicht ist die Welt wirklicher, weil sie so unwirklich ist

Über der Schotterebene leuchtete noch die Sonne, ganz flach lag sie im Westen auf der Erde, in diesem satten Licht konnte ich mir nicht vorstellen, dass es bald dunkel werden würde, ich rollte weiter, mit großer Geschwindigkeit, auf einer Asphaltpiste, die Autobahn Acht genannt wird und von der Schotterebene ins hügelige Alpenvorland führt, durch die große Geschwindigkeit hatte ich das hügelige Alpenvorland bald erreicht, ich hatte das satte Licht hinter mir gelassen, jetzt dämmerte es, und Tanja, die zu meiner Überraschung neben mir saß, während wir mit großer Geschwindigkeit die Asphaltpiste entlangrollten, sagte: Im Dämmerlicht ist die Welt wirklicher, weil sie so unwirklich ist.
Ich versuchte daraufhin, die Wirklichkeit so gut ich konnte zu erfassen, ich entgegnete Tanjas Aussage mit meiner Feststellung: Die Mangfall haben wir bereits überquert, nun schmiegt sich die Asphaltpiste in das Tal der Leitzach, um uns danach auf den Irschenberg zu führen.
Mag sein, sagte Tanja, aber was hat das mit der Wirklichkeit zu tun?

Vom Irschenberg aus sahen wir ins Inntal nach Osten, die dämmerige Welt lag wie ein Traum vor uns, während im Rückspiegel das Licht der untergehenden Sonne leuchtete. Ich betrachte den erleuchteten Punkt vor uns, der Rosenheim genannt wird, sagte Tanja nun, und es kommt mir so vor, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin und wo ich mich befinde. Vielleicht befinde ich mich in der unmittelbaren Unwirklichkeit.
Die Asphaltpiste leitete uns weiter durch die Unwirklichkeit, und ich dachte an Tanjas Worte, als wir aus der Schotterebene in die Unwirklichkeit eingetaucht waren: Im Dämmerlicht ist die Welt wirklicher, weil sie so unwirklich ist.
Am Chiemsee verließen wir die Asphaltpiste, es erschien unwirklich, hatte die Piste uns doch wie in einem Traum durch das dämmerige Land geleitet, am Chiemsee war es dunkel, das Sonnenlicht im Westen nur noch zu erahnen, die Sterne über uns hell aber nicht erleuchtend, ich verlor vollkommen die Orientierung, was Tanja wortlos zur Kenntnis nahm, ich hatte nicht das Gefühl, als wolle sie etwas gegen diese Orientierungslosigkeit unternehmen, mitten in dieser Orientierungslosigkeit erreichten wir Sonjas Haus, dort hielten wir, und Tanja sagte: Ich steige aus und gehe zu Sonja ins Haus.

Für einen Moment dachte ich, dass auch ich steige aus und gehe zu Sonja ins Haus, doch in diesem einen Moment fiel etwas Licht auf Johannas Gesicht, Johanna saß mit den Kindern hinten, woher das Licht kam, das auf Johannas Gesicht fiel, weiß ich nicht, mittlerweile bilde ich mir ein, dass es von mir kam, ich weiß auch nicht, wieso Johanna mit den Kindern hinten saß, Tanja war inzwischen ausgestiegen und ging zum Haus, und ich wusste jetzt, dass ich mit Johanna und den Kindern an den See fahren würde, wir waren schon am See, trotzdem würde ich mit Johanna und den Kindern weiterfahren, an den See, vielleicht an einen anderen See, vielleicht an den gleichen See an anderer Stelle, Johannas Mutter wohnt am See, so wie Sonja, wir würden zu Johannas Mutter fahren, wo ist eigentlich Johannas Vater? Wo sind überhaupt die Väter in dieser unmittelbaren Unwirklichkeit?

An mehr kann ich mich nicht erinnern, sicher ist, dass ich weiß wo ich mich befinde, die Sonne scheint hell am See, ich weiß, dass ich lebe, aber in alledem fehlt etwas, als wäre es nicht wirklich, eher unwirklich, wie ein Traum, und immer wieder kommen Tanjas Worte über mich, dass im Dämmerlicht die Welt wirklicher ist, weil sie so unwirklich ist.

Kassenkrieg

Die Situation in der ich mich befand war eine zufriedenstellende, Samstag Vormittag beim Einkaufen, draußen schien die herbstliche Sonne, ein freies Wochenende vor mir, freudig stand ich unter meinen Mitmenschen in der Kassenschlange, die Situation war derart zufriedenstellend, dass ich nie auf die Idee gekommen wäre, sie festzuhalten in Worten, im Gegenteil, es war ein angenehmer Fluss in mir, trotz des Wartens in der Kassenschlange, den ich nicht durch Festhalten unterbrechen wollte. Eine zweite Kasse wurde geöffnet, um die Schlange mehr ins Fließen zu bringen, ein zweiter Abfluss wurde geschaffen, und ich beschloss, den zweiten Abfluss zu benutzen, gerade als ich diesen Beschluss gefasst hatte, drängte sich ein hinter mir Wartender an mir vorbei, so war jedenfalls mein Eindruck seines Vorgehens, sein Vorgehen war ein Vordrängen. Nun empfand ich die Situation nicht mehr zufriedenstellend, eine leichte Unzufriedenheit stellte sich ein, weshalb ich nun beschloss, diese leichte Unzufriedenheit in leichte Worte zu fassen, und ich sagte zum Vordrängler: Sie haben es wohl sehr eilig?, woraufhin der Vordrängler sagte: Ich habe ja nicht viel!, eine Antwort, die mich erstaunte, erschien sie mir doch nicht logisch, denn nur weil man wenig Sachen zu bezahlen hat, erwirbt man doch nicht das Recht zum Vordrängeln, es war eine pure Dreistigkeit, sich vorzudrängen mit der Begründung, nicht viel zu haben. Erstaunte mich diese Antwort nur oder verärgerte sie mich? So genau kann ich das im Nachhinein nicht mehr sagen, ich denke es mischte sich bereits Ärger ins Erstaunen, doch dazu später, denn ich getraue mich zu behaupten, dass zu diesem Zeitpunkt das Erstaunen den Ärger überwog, antworte ich doch auf sein Ich hab ja nicht viel mit: Ich hab auch nicht viel, woraufhin er meinte: Ich war aber schneller!, und jetzt, das spüre ich ganz deutlich während ich erzähle, jetzt kam zum Erstaunen der Ärger, sein permanentes Rechtfertigen, das ich im Nachhinein als konsequente Kommunikationsverweigerung interpretiere, begann mich zu ärgern: sich vorzudrängen und anschließend zu versuchen, sich dafür zu rechtfertigen, mit despektierlichen Äußerungen – was soll das? Hätte er gesagt: Entschuldigung, ich habe es eilig, mein ursprünglicher Zustand der Zufriedenheit hätte sich nicht verändert, das traue ich mich zu behaupten, aber seine Aussagen Ich hab nicht viel und Ich war schneller erlebte ich als eine Respektlosigkeit, die mein Erstaunen in Ärger verwandelte, Krieg war nun unvermeidlich, das Schlachtfeld war eröffnet, ich sagte zu ihm, und ich höre mich mit zynischem Unterton sprechen: Das hier ist also ein Wettbewerb? Ein Gegeneinander? Wer schneller ist? Wer sich listiger am anderen vorbeidrängelt?Ich bin zwar älter als Sie aber schneller, das gibt’s, entgegnete er meinen Angriff, die Schlacht war in vollem Gange.

Ich blickte ihn reglos und durchdringend an, ich spürte meinen Ärger – und wahrscheinlich sah er ihn in meinen Augen – ich blieb aber äußerlich ruhig, wie ein Raubtier, das seine Beute zappeln lässt. In diese Spannung hinein sagte er: Haben Sie sonst keine Probleme?Nein, sonst habe ich keine Probleme. Sonst erlebe ich allgemeine Zufriedenheit. Nur mit Ihrem Vordrängeln, das Sie schlau und toll finden, habe ich ein Problem, weil ich es respektlos und dumm finde. Er winkte ab und vergaß dabei zu bezahlen, obwohl der Kassier ihm bereits den Preis genannt hatte.

Ich fühlte mich als Sieger dieses Wettbewerbs, und zur Kür sagte ich: Schnell! Schnell! Bezahlen Sie! Und packen Sie schnell Ihre Sachen! Zeigen Sie mir, wie schnell Sie sind! Er räumte das Feld, die Schlacht war vorüber.

Merd Güller

Gerd Müller, der Fußballer aus Nördlingen im bayerischen Schwaben, dort im November 1945 geboren, schoss einst so viele Tore wie sonst keiner. Im August 2021 ist er gestorben, und weil man ihn zu Lebzeiten wegen seiner vielen geschossenen Tore zu einer Legende gemacht hatte, sagte man im August 2021: Eine Legende ist gestorben.

Gerd Müller hätte als Legende leben können, wenn er nicht 1974, nach dem Finale der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland, seinen Mannschaftskameraden und Funktionären des deutschen Fußballbundes (DFB) verraten hätte, dass er in Wahrheit Merd Güller heißt. Er hatte im Finale zuvor als Gerd Müller mit seinem Tor die deutsche Mannschaft zum Fußball-Weltmeister gemacht, dann mit seinem Geständnis für viel Hektik vor allem unter den Funktionären des DFB gesorgt. Die einen sagten: Wollen wir uns wegen zweier vertauschter Buchstaben verrückt machen? Merd, Gerd, Güller, Müller? Ja, aber – sagten die anderen, der hat doch so dunkle Haare, natürlich ist das ein Türke, der Gerd Müller, der heißt sicher Merd Güller, und noch andere sagten: Aber nein, ein Türke ist er nicht, aber sein richtiger Vater war ein Zigeuner, das hört man doch immer wieder, und da sagte Hermann Neuberger, seinerzeit hoher Funktionär und wenig später Präsident des DFB: „Ich kann weder Türken noch Zigeuner in meiner Mannschaft brauchen. Gerd Müller, wenn er denn Merd Güller heißt, was ja erwiesen ist, er hat es ja selbst gesagt, kann nicht mehr in meiner Mannschaft spielen, auch wenn er noch so viele Tore schießt.“

Jeder wunderte sich, warum Gerd Müller ab 1974 nicht mehr in der deutschen Nationalmannschaft spielte, denn alle dachten, außer die paar Eingeweihten des DFB, dass er Gerd Müller heißt, und ein Gerd Müller kann natürlich in der deutschen Nationalmannschaft spielen, vor allem, wenn er so viele Tore schießt. Während ein Merd Güller natürlich nicht in der deutschen Naitonalmannschaft spielen kann, der sollte schon in der türkischen spielen, das dachte sich auch Hermann Neuberger, aber er konnte es nicht sagen, dem deutschen Volk sollte nicht sein Glaube an Gerd Müller genommen werden, und deshalb hieß es, dass Gerd Müller nicht mehr in der deutschen Nationalmannschaft spielen wollte, obwohl Merd Güller nicht mehr in der deutschen Nationalmannschaft spielen sollte.

Merd Güller war spätestens seit 1974 ein gebrochener Mann. Er spielte nicht mehr in der deutschen Nationalmannschaft, aber er spielte noch für den FC Bayern München, wo ein gewisser Wilhelm Neudecker als Präsident das Sagen hatte, und Neudecker sagte: „Gerd Müller, sag ja niemandem, dass du Merd Güller heißt. Und wenn du keine Tore mehr schießt, dann kannst dich schleichen, du Scheißtürk!“

Merd Güller schoss noch einige Jahre Tore für den FC Bayern München, dann sagte er zu Wilhelm Neudecker: „Präse, ich kann nicht mehr! Ich will allen sagen, dass ich Merd Güller heiß!“
„Bist du wahnsinnig!“ schimpfte Neudecker: „Eher gehst zum Franz nach Amerika! Der soll dir deine Flausen austreiben.“

Franz Beckenbauer, der Gott des deutschen Fußballs, spielte zu dieser Zeit schon nicht mehr für den FC Bayern München, sondern für Kosmos New York. Auch bei Beckenbauer überkam Neudecker kurzzeitig die Sorge, ob er nicht auch Türke oder sonstwas Komisches sei, er beriet sich mit seinem Verwaltungsbeirat, man vertauschte die Buchstaben wie bei Müller und kam zur Erkenntnis, das Banz Freckenbauer zwar komisch, aber keinesfalls türkisch, sondern am ehesten deutsch klingt.

Merd Güller ging also zu Franz Beckenbauer nach Amerika, ohne allen zu sagen, dass er Merd Güller und nicht Gerd Müller heißt. Drei Jahre schoss er in Amerika noch Tore, aber dann war es endgültig vorbei mit dem Toreschießen, mit der einzigen Beschäftigung, die ihn vergessen ließ, dass er Merd Güller und nicht Gerd Müller heißt, und wieder war er unglücklich, als er merkte, dass er für die Welt Gerd Müller und nicht Merd Güller heißt. Er begann mehr Alkohol zu trinken als bisher. Er kam wieder nach Deutschland zurück, um noch mehr Alkohol zu trinken.

Nach einigen Jahren, in denen Merd Güller sich weitgehend unbemerkt seiner Alkoholsucht hingegeben hatte, kam Uli Hoeneß ins Spiel. Uli Hoeneß ist eine kleine deutsche Fußballerlegende und heute eine Managerlegende. Damals sagte Uli Hoeneß, als Manager des FC Bayern München, zu Fußballgott Franz Beckenbauer: „Franz, wir müssen uns um den Gerd kümmern! Der ist eine FC-Bayern-Legende und als solche wichtig für uns!“
„Ah, du meinst den Merd?“ entgegnete Beckenbauer.
„Den Gerd mein ich, Franz. Hör mir auf mit dem Merd!“

Uli Hoeneß kümmerte sich daraufhin um die Sache, zahlte eine teure Entzugsbehandlung, um die Legende Gerd Müller trocken zu kriegen. Und er sagte zu Merd Güller: „Das alles mache ich, damit du Gerd Müller bleibst. Verstanden!“
Und so blieb Merd Güller die Legende Gerd Müller, der so viele Tore schoss wie keiner, und nebenbei war er Co-Trainer von Nachwuchsmannschaften des FC Bayern München.

Fast zwanzig Jahre vergingen auf diese Weise, kein Mensch wollte mehr wissen, dass Gerd Müller, die Legende, der so viele Tore schoss wie sonst keiner, in Wahrheit Merd Güller heißt, auch kein DFB-Funktionär, als Merd Güller zu Uli Hoeneß sagte: „Uli, ich mag nicht mehr. Ich sag allen, dass ich Merd Güller heiß!“
„Einen Teufel wirst du tun!“ schimpfte Hoeneß: „Du bist Gerd Müller. Der Mann, der so viele Tore schoss wie sonst keiner!“

Und so blieb Merd Güller wieder Gerd Müller, aber es fiel ihm noch schwerer als früher, Gerd Müller zu sein, die Legende, die so viele Tore schoss wie sonst keiner, er wollte nun endlich Merd Güller sein, aber es ging nicht mehr, zu viel war passiert, zu viele Tore waren geschossen, von ihm, für den FC Bayern München, und für Deutschland. Zu viele Jahre waren vergangen, in denen er Gerd Müller war und nicht Merd Güller. Seinen Toren, die er als Gerd Müller geschossen hat, hat er alles zu verdanken, vor allem diesem einen Tor, das Deutschland zum Weltmeister machte, 1974, sein letztes Tor für Deutschland:

Er ist Gerd Müller, der so viele Tore schoss wie sonst keiner, die Legende, aber er wollte nicht mehr Gerd Müller sein, und weil es keinen anderen Ausweg mehr gab, vergaß er einfach, dass er Gerd Müller ist, er vergaß es immer mehr, er vergaß seine Tore, eines nach dem anderen, er vergaß auch, dass er Merd Güller ist, denn er würde es nie sein können. Man nannte es Demenz, das Vergessen des Merd Güller.

An seinem 70. Geburtstag, als ihn alle feiern wollten, die Legende, die so viele Tore schoss wie sonst keiner, hatte er alles vergessen, fast alles, außer das Tor 1974, sein letztes für Deutschland, das hatte er noch nicht vergessen. Die Feier wurde abgesagt. Es wäre zu peinlich gewesen, eine Legende zu feiern, die so viele Tore schoss wie sonst keiner, die diese Tore aber vergessen hat, vergessen wollte. Schließlich gingen noch einige Jahre der Selbstvergessenheit des Merd Güller ins Land, ins deutsche Land, bis er in seinem 76. Lebensjahr alles vergessen hatte, und seine Existenz als Gerd Müller endete.

Welt Wer Worte