Vorderbrandner ist im Theater gewesen und hat Terror gesehen. In dem Stück wird ein Gerichtsprozess verhandelt: Ein Militärpilot ist wegen Mordes angeklagt. Er hat ein Passagierflugzeug mit 164 Personen an Bord abgeschossen. Das Flugzeug war von einem Terroristen gekapert worden und steuerte auf das vollbesetzte Fußballstadion in München mit 70.000 Zuschauern zu. Durfte der Militärpilot die Maschine abschießen, um Schlimmeres zu verhindern? Rechtlich hatte er keinerlei Rückendeckung, denn der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes besagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Also darf man unschuldige Passagiere in einem Flugzeug nicht abschießen, so das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
Wenn die Flugzeuge, die am 11. September 2001 in die Hochhäuser in New York und in den Pentagon flogen, vorher vom Militär abgeschossen worden wären – würden wir uns besser fühlen? fragt Vorderbrandner.
Nein, sage ich. Wir würden uns nicht besser fühlen. Wir wüssten ja nicht, ob sie in die Hochhaustürme und in den Pentagon geflogen wären. So etwas konnte sich bis zu diesem Tag niemand vorstellen, dass jemand eine solche Tat begehen würde. Und die Terroristen haben es über Funk nicht angekündigt. Es würde sich erst recht um Mord handeln, wenn die Flugzeuge abgeschossen worden wären.
Die amerikanische Regierung unter George Bush hat damals gesagt, ein Abschuss wäre rechtlich erlaubt gewesen.
Weil die Amerikaner das Recht für sich beanspruchen, alle zu töten, die nicht so denken wie sie.
Nein. Weil sie die Menschen in den Hochhäusern und im Pentagon retten wollten.
Ich will etwas ausholen: Ich erzähle dir, was ich am 11. September 2001 gemacht habe. Ich habe meinen kleinen Neffen gehütet. Bald habe ich mitgekriegt, was geschehen war, und habe den Fernseher angemacht. Ich sah die Bilder der einschlagenden Flugzeuge, die Explosionen, immer wieder, und mein kleiner Neffe saß neben mir und sah sie auch. „Was ist mit den Menschen in den Flugzeugen passiert?“ fragte er mich, nachdem wir lange fassungslos vor dem Fernseher gesessen waren. „Die sind alle gestorben.“ „Und mit den Menschen in den Hochhäusern?“ „Viele konnten sich wahrscheinlich retten, aber viele sind auch gestorben.“
Abends wollte ich ihn ins Bett bringen, aber er wollte immer wieder die Bilder der einschlagenden Flugzeuge sehen. „Komm“, sagte ich, „ab ins Bett!“ Ich hatte ein schlechtes Gewissen, den kleinen Buben so lange diesen Schrecklichkeiten ausgesetzt zu haben. Aber er ließ sich nicht vom Fernseher bewegen.
„Wieso willst du das denn immer wieder sehen?“ fragte ich ihn schließlich.
„Vielleicht fliegen die Flugzeuge beim nächsten Mal vorbei. Dann müssen nicht so viele sterben.“
Jetzt verstand ich seine Anspannung, und seine Hoffnung, dass die Flugzeuge doch nicht in die Hochhäuser einschlagen. Erst jetzt wurde mir bewusst, was passiert war. Es geht nicht um die Amerikaner oder um die Moslems. Es geht um die Menschen in den brennenden Hochhäusern. Ich war ergriffen und gerührt vom Glauben meines kleinen Neffen an das Leben, wie er jedes Mal wieder aufs neue hoffte, dass die Flugzeuge vorbeifliegen würden.
Schließlich schaffte ich es, ihn ins Bett zu bringen. Ich musste mich sehr überwinden, den Fernseher auszumachen, so unfassbar war das alles. Im Bett erzählte ich ihm die Geschichte von dem Mädchen, das durch die bevölkerten Straßen geht, an das Gute im Menschen glaubt und sich jedesmal freut, wenn ihr Glaube mit einem Lächeln erwidert wird. Während ich ihm das erzählte, konnte ich meine Tränen nicht unterdrücken. Was war denn da passiert heute? Irgendwann schliefen wir beide nebeneinander ein.
Seit diesem Erlebnis mit meinem kleinen Neffen am 11. September 2001 glaube ich noch viel mehr an das Leben als davor. Ich glaube an das Leben, bis zum letzten Moment und bedingungslos. Wieso also sollte man Passagierflugzeuge abschießen dürfen? Ist das nicht eine Absage an das Leben? Hätte man die Flugzeuge am 11. September 2001 abgeschossen, würden die Zwillingstürme in New York noch immer in den Himmel ragen, aber man würde sich fragen, ob man die Passagiere nicht vielleicht doch hätte retten können. Man hätte die Mordabsicht der Terroristen mit Mord vergolten. Wird das dem Leben gerecht?
Ich wurde im Theater, während der Vorstellung von Terror, von Ängsten getrieben, sagt Vorderbrandner; dass unser westliches Leben bedroht wird von dunklen Mächten, die uns vernichten wollen. Und ich dachte, dass man einen redlichen Menschen wie den angeklagten Militärpiloten, der nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat, der unsere Werte schützt und verteidigt, doch nicht wegen Mord verurteilen darf. Leben heißt, sich entscheiden. Wenn es sein muss, über Leben und Tod. Das hat mir Terror vor Augen geführt.