Anziehangelegenheiten

Vorderbrandner schmunzelt immer nur, wenn ich ihn darauf anspreche. Ich musste die Polizei rufen, sage ich ihm, aber er schmunzelt nur darüber.

Wir waren auf einer öffentlichen Badewiese, Vorderbrandner und ich. Ganz in der Nähe von uns redeten einige Leute auf eine Frau ein, die vollständig verhüllt war und nur durch Schlitze bei ihren Augen mit der Umwelt verbunden war. Die vollständig verhüllte Frau sah aus wie ein Gespenst, weil sie zwar offensichtlich durch die Schlitze nach draußen sehen konnte, ich ihre Augen aber durch die Schlitze nicht erkennen konnte. Die Leute, die auf die verschleierte Frau einredeten, empfanden ihre Vollverschleierung als störend und verlangten von ihr, sich ihres Schleiers zu entledigen. Ich hörte nicht, was sie wortwörtlich zu ihr sagten, aber ihren Gesten war zu entnehmen, dass sie von ihr verlangten, sich ihres Schleiers zu entledigen.

Vorderbrandner, der neben mir saß, hatte die Sache auch mitbekommen. Vorderbrandner befand sich kleidungstechnisch in einem scharfen Gegensatz zur vollverschleierten Frau, denn er war vollständig nackt. Vorderbrandner geht an dieser Badestelle immer nackt baden, wie viele andere auch. Niemand hätte Vorderbrandner beachtet, wie er nackt in der Wiese lag. Doch unvermittelt stand er auf und ging, nackt wie er war, zu den Leuten um die vollverschleierte Frau. Er fragte, ob er helfen könne, den Konflikt, der hier offensichtlich herrsche, zu lösen.
„Du gehst besser, du nackter Saubär!“ sagte einer der Leute zu ihm, woraufhin Vorderbrandner meinte, ob denn jetzt An- oder Ausgezogensein das Problem sei.
„Wie?“ fragte der Mann aus der Gruppe, der ihn als einen nackten Saubären bezeichnet hatte.
„Ihr wollt, dass die verschleierte Frau ihren Schleier auszieht, aber ich, der ich ausgezogen bin, bin ein nackter Saubär. Diesem derben Vokabular entnehme ich, dass ihr wünscht, dass ich mir etwas anziehe.“
„Das ist doch etwas ganz anderes. Misch dich nicht ein und schleich dich!“
Vorderbrandner schleichte sich nicht, sondern sagte, mit einer provozierenden Art, mit der er in solchen Situationen zu Hochform aufläuft: „Ausziehen und anziehen sind für mich sehr verwandte Begriffe, in der Tat, sie bedingen sich gegenseitig.“
„Es geht hier um Grundsätzliches, um eine Ideologie. Nicht ob sich jemand auszieht oder anzieht“
„Ausziehen und anziehen sind sehr grundsätzliche Dinge. Ein Kind zieht sich aus, wenn ihm warm ist, ein Kind zieht sich an, wenn ihm kalt ist. Wo ist da eine Ideologie? Das ist eine pure Notwendigkeit des Lebens, sich aus- oder anzuziehen.“
„Dann frag doch mal die Vollverschleierte, ob sie sich aus purer Notwendigkeit des Lebens ihren Schleier überwirft in dieser Hitze!“
„Es sieht unbequem aus, bei diesen sommerlichen Temperaturen mit einem Vollumhang herumzulaufen. Sie muss schrecklich schwitzen. Ich erkenne in der Tat keine Notwendigkeit, im Gegenteil“, sagte Vorderbrandner, und alle schienen sich einig zu sein. Nur von der Vollverschleierten war nichts zu hören und nichts zu sehen, und sie machte, trotz des einleuchtenden Arguments Vorderbrandners, dass es bei sommerlichen Temperaturen schön sei, sich auszuziehen, keine Anstalten, sich des Schleiers zu entledigen.

Plötzlich kamen Männer auf die Wiese, etwas fremdartig in ihrem Aussehen, für unsere Breiten üblich angezogen (also Gesicht, Hände und Arme nicht bedeckt). Sie suchten wohl die verschleierte Frau, denn sie waren sehr aufgeregt, als sie sie erblickten. Sofort rissen sie sie recht grob an sich. Vorderbrandner mischte sich ein und sagte, sie sollen nicht so grob sein zu der Frau, wo sie doch wahrscheinlich ohnehin furchtbar schwitze unter ihrem Schleier. Er fragte, ob man sie denn nicht erlösen könne, nahm ihren Schleier und hob ihn leicht in die Höhe.

Ich dachte mir: Vorderbrandner, du Kindskopf, lass das! Du bist ein Kind geblieben, aber die meisten anderen – vor allem Männer, die vollverschleierte Frauen suchen – sind verbohrte Erwachsene, die sich hinter ihren Ideologien verstecken. Durch die Ideologie wird Aus- oder Angezogensein zum Problem gemacht, denn ein Problem lässt sich besser kontrollieren als die Welt mit all ihren Möglichkeiten des Aus- und Angezogenseins. Das dachte ich mir, und während ich mir das dachte, hatten sie Vorderbrandner schon zu Boden geworfen, wälzten und rauften sich mit ihm. Der nackte Vorderbrandner im Ringkampf mit den Männern, während die Vollverschleierte regungslos stehenblieb – ein Bild wie ein Krieg. Ich hatte Angst um Vorderbrandner, aber ich war zu ängstlich, mich ins Getümmel zu werfen, um ihm beizustehen. Also rief ich die Polizei. Als ich die Polizei gerufen hatte, war ich unsicher, ob die Polizei eine Hilfe für Vorderbrandner sein würde, denn der nackte Vorderbrandner in diesem Getümmel würde wohl als Erregung öffentlichen Ärgernisses identifiziert werden. Als nackter Saubär eben.

Die Leute, die Vorderbrandner anfangs als nackten Saubären betitelt hatten, kämpften jetzt großteils gegen die Männer, die die vollverschleierte Frau gesucht hatten. Plötzlich, inmitten des Aufruhrs, fiel die Vollverschleierte um wie ein Baumstamm. War sie in der Sommerhitze kollabiert? Niemand der Kämpfenden hatte ihren Zusammenbruch bemerkt, stattdessen wurde unverdrossen weitergebalgt und -gestritten. Vorderbrandner konnte sich unterdessen aus dem Getümmel befreien, lief schnurstracks ans Ufer des Sees und sprang ins Wasser. Ich überlegte, ob ich es wagen sollte, die Vollverschleierte von ihrem Schleier zu befreien oder ob jede Hilfe schon zu spät kam oder ob ich zusätzlich zur Polizei einen Krankenwagen rufen sollte oder ob ich einen der Männer, die die vollverschleierte Frau gesucht hatten, darauf hinweisen sollte, sich nicht weiter zu prügeln, weil die Frau Hilfe benötigt. Oder ob ich dem ganzen Irrsinn, als den ich ihn erlebte, einfach seinen Lauf nehmen lassen sollte.