Teil 1
Natürlich habe ich Grübeldinger wieder besucht, als ich in Salzburg war. So wie ich es immer mache, wenn ich in Salzburg bin: Ich besuche Grübeldinger, um mich nachher zu fragen, wieso ich ihn besucht habe. Grübeldinger hatte mich diesmal gebeten, ihn zu besuchen, was ungewöhnlich ist für Grübeldinger, denn normalerweise gibt er vor, keinen Besuch empfangen zu wollen, um mich dann jedesmal bereitwillig zu empfangen.
Grübeldingers Wohnung liegt wie ein Anachronismus mitten in der Salzburger Altstadt. Das enge Leben, sagte Grübeldinger mir einmal, habe er zu ertragen. Er sei kein Feigling wie die anderen, die an den Stadtrand fliehen, wo sie hässliche Häuserreihen in die Natur pflügen, wo die Zivilisation wie ein Krebsgeschwür die Landschaft verunstalte. Er stelle sich dem städtischen Leben in diesen engen Gassen, in denen zwar mehr und mehr verlotterte Touristen ahnungslos herumlaufen würden, aber trotzdem gebe es keine Alternative für ihn, als in dieser Stadt zu leben. Ich bin gezwungen, in dieser Stadt zu leben, sagt Grübeldinger immer wieder, und vielleicht ist es dieser Zwang Grübeldingers, der mich immer wieder veranlasst, ihn zu besuchen.
Ich gehe die knarzende Holztreppe nach oben in dem alten Haus, in dem Grübeldinger wohnt. Grübeldinger wohnt unter dem Dach, wo früher das Gesinde wohnte, das betont er immer wieder. Wo sie früher das Gesinde hinsteckten, da stecken sie jetzt mich hin, sagt Grübeldinger. Ich ging mit einem mulmigen Gefühl die knarzenden Holztreppen entlang, mit einem anderen Gefühl als sonst, denn diesmal hatte Grübeldinger mich gebeten, ihn zu besuchen, anders als sonst. Sonst zeigt er immer einen Widerwillen meinen Besuchen gegenüber, wenngleich ich auch vermute, dass es ein gespielter Widerwille ist. Mit diesem mulmigen Gefühl gehe ich die letzten Treppen nach oben. Die Tür von Grübeldingers Wohnung ist offen. Hat er mich kommen hören? Ich sehe in die Wohnung, die aus nur einem Zimmer mit einem nicht sehr großen Fenster besteht. Ganz hinten am Fenster sehe ich Grübeldinger sitzen, schreibend, angestrengt den Kopf über seinen Notizblock beugend. Vorsichtig trete ich ein.
Ich schreibe an einer wichtigen Arbeit, sagt Grübeldinger, ohne dabei sein Gesicht in meine Richtung zu drehen und mich zu begrüßen. Dann schaut er zum Fenster hinaus. Salzburg, Stadt ohne Land, zerrieben und missbraucht, sagt Grübeldinger. Darüber schreibe ich – ich, Grübeldinger, Mensch ohne Heimat, zerrieben und missbraucht. Ich darf mich jetzt nicht ablenken von dieser Arbeit, jetzt, wo ich sie so klar vor mir sehe, jetzt, wo die Zeit gekommen ist, mit der Wahrheit nicht länger zurückzuhalten. Er beugt sich über den Block und starrt auf das Geschriebene.
Wir schweigen einige Minuten, Grübeldinger im Sitzen, ich im Stehen. Ich sollte etwas sagen, aber ich weiß nicht was. Ich sollte gar nichts sagen. Plötzlich greift Grübeldinger nach einem Umschlag, der neben seinem Notizblock auf dem Tisch liegt und reicht ihn mir.
„Was ist das?“ frage ich.
„Mein Vater hat einen Brief gefunden, den dein Großvater an meinen Großvater geschrieben hat.“
Reichenhall, Herbst 1939 Lieber Hans, vielleicht bin ich ein blinder Idealist. Diese Autobahn, die der Führer für uns bauen lässt, sie begeistert mich. Endlich wird unsere Gegend offen für die Welt. In ein paar Jahren werden wir uns alle ein Automobil anschaffen, und nichts kann uns mehr stoppen! Ich bin begeistert, dass es endlich keine Grenze mehr gibt. Wir Hinterstoisser leben seit jeher drüben und herüben, und ich habe mich immer geweigert, uns in Österreicher und Deutsche einzuteilen. Ich weiß noch, wie glücklich ich war letztes Jahr, beim Spatenstich für die Autobahn am Walserberg mit dabei zu sein. Der Führer hat ihn persönlich vorgenommen. Doch was passiert jetzt? Es wird nur ein kleines Teilstück der Autobahn gebaut, um dem Führer eine winterfeste Zufahrt von München aus zu seiner Residenz am Obersalzberg zu ermöglichen. Das ist nicht schlimm, dachte ich erst, sicher wird bald der Anschluss für die Stadt Salzburg gebaut, den ich als viel sinnvoller erachte. Doch trotzdem beschleicht mich seitdem so ein komisches Gefühl, das ich nicht loswerde. Ist der Führer etwa bloß ein Egoist, dem es nur um seine Macht geht und der uns benutzt? Dem es völlig egal ist, ob die Hinterstoisser durch eine Grenze getrennt sind oder nicht? Ich weiß nicht, warum ich dieses Gefühl nicht loswerde. In meinen schlimmsten Träumen sehe ich den Führer als maßlosen Egoisten, der uns alle ins Verderben reitet. Ich habe noch nie so viel gearbeitet wie jetzt für dieses Autobahnprojekt. Endlich ist was los! Trotzdem habe ich Angst, dass etwas Schlimmes passiert. Sag mir bitte, dass diese Angst unbegründet ist und meine Gedanken völliger Unsinn sind! Heil Hitler! Dein Hermann
Hat Grübeldinger mich wegen diesem Brief zu sich gebeten? Er sagte nichts dazu, richtete stattdessen den Blick zum Fenster hinaus und sagte: Diese Stadt, Salzburg, ist eine Stadt ohne Land, und es ist die Frage, ob eine Stadt ein Land braucht, ob nicht viel mehr ein Land eine Stadt braucht, weil ein Land ohne Stadt an seinem Stumpfsinn zugrunde geht. Aber was ist, wenn die Stadt da ist, aber kein Land mehr? Muss diese Stadt dann nicht wahnsinnig werden? Salzburg, eine Stadt und ein Land. Das sagen sie, dass die Salzburger ein Land haben, obwohl es sich dabei nur um ein paar enge Gebirgstäler handelt, in denen der Stumpfsinn große Blüten treibt. Dieser Stumpfsinn strahlt sogar schon in die Stadt herein, und vielleicht war Salzburg nie die Stadt, die es glaubte zu sein. Vielleicht war hier, in der Stadt, der Stumpfsinn auch schon immer zuhause.