Alter Mann am kleinen Fluss

Irgendwo zwischen München und Passau

Der kleine Fluss mäandert durch die feuchten Wiesen. Der kleine Fluss beherrscht diese Landschaft, sagt der alte Mann, der längst gestorben ist. Gleichmäßiger Wasserstand sei wichtig, sagt der alte Mann, für seine Mühle am Fluss, damit sie mahlt. Die feuchten Wiesen speichern das Wasser und geben es gleichmäßig ab an den Fluss, damit seine Mühle mahlt. Grobkörniges Mehl mahle sie, sagt der alte Mann, seine Mühle, nicht so feines wie aus dem Supermarkt. Er ist zufrieden damit, denn er glaubt, dass es gesünder sei als das feine aus dem Supermarkt.

Der Sohn des alten Mannes hat die feuchten Wiesen drainagiert und trockengelegt, um dort Getreide anzubauen. Der kleine Fluss ist dann oft ausgetrocknet in regenarmen Zeiten, weil die feuchten Wiesen kein Wasser mehr speicherten, dass sie abgeben konnten. Das Wasser war durch die Drainagerohre längst unterwegs zum Schwarzen Meer. Die kleine Mühle stand still. Lastwägen kamen, um das Getreide in eine große Mühle zu transportieren; in eine große Mühle, wo das feine Mehl für den Supermarkt gemahlen wird.

Die Autobahn führt jetzt durch das Tal des kleinen Flusses. Um das Getreide schneller zur großen Mühle zu bringen. Das Wasser fließt im Drainagerohr, der Verkehr auf der Autobahn. Es fließt geradlinig und schnell, nicht mäandernd und trödelnd. Vielleicht ist das der unabwendbare Fortschritt der Menschheit. Immer schneller, größer, weiter – alternativlos. Alternativlos? Wieviel Geschwindigkeit verträgt der Mensch?

Ich gehe am Ufer des kleinen Flusses entlang, unter den Betonpfeilern der Autobahn. Ich suche die Mühle. Stattdessen treffe ich den alten Mann, der doch längst gestorben ist. Er sagt: Der Fluss beherrschte diese Landschaft. Alles drehte sich um ihn. 43 Mühlen gab es hier. Eine Gerberei. Wir haben ihn benutzt, wir haben ihn verschmutzt. Wir haben ihn auch geachtet und beobachtet. Wir haben mit ihm gelebt. Es gab nur ihn. Er lehnt sich an den Betonpfeiler der Autobahn und erzählt weiter: Wir lebten mit der Feuchtigkeit. Mit diesen Betonpfeilern ziehen sie das letzte Wasser aus dem Boden. Wer braucht denn hier noch Wasser? Der Fluss ist eine große Rinne, die das Wasser bei starkem Regen möglichst schnell abtransportieren soll. Wer braucht denn hier noch Wasser? Die Autobahn beherrscht jetzt unsere Landschaft. Sie transportiert den Verkehr schnell von Stadt zu Stadt. Er sieht mich an und sagt: Fahr jetzt zurück in die Stadt. Da gehörst du hin.

Er hat recht. Ich gehöre in die Stadt. Da sind die Menschen, die ich liebe. Da ist meine Arbeit. Da ist mein Leben. Für meine Rückfahrt nehme ich nicht die Autobahn, sondern mäandere mich die Landstraße entlang, um langsam aus dieser Entschleunigung wieder in mein gewohntes Leben zu gleiten. Ich höre ein Lied von Blumfeld und bekomme eine Zeile davon nicht aus dem Ohr: Ich kann im Fortschritt keinen Fortschritt sehen.

Die Isen