Nie mehr Herrschaft eines Tyrannen! Wir huldigen den Errungenschaften der Demokratie, die wir uns durch das Grundgesetz gegeben haben. (Manche bösen Geister behaupten, das Grundgesetz wurde uns von den Alliierten aufgezwungen.) Wieso betont man so oft, wie wertvoll eine Demokratie ist? Gibt es etwa viele, die das nicht so sehen?
Ich war am Wochenmarkt vor der Kirche, am Gemüsestand. Eine Frau, ich schätze ihr Alter auf vierzig bis fünfundvierzig Jahre, war vor mir an der Reihe. Sie kaufte soviel Gemüse, dass ich aus dem Staunen nicht herauskam. Sie kaufte Gemüse, das ich vorher noch nie wahrgenommen hatte, und deshalb fällt es mir jetzt schwer, es zu beschreiben. Plötzlich rief sie „Otto„ in meine Richtung. Da mir klar war, dass sie damit nicht mich meinen konnte, drehte ich mich um. Ich sah einen etwas dicklichen, kleinen Jungen, der vor nicht allzu langer Zeit wohl noch gekrabbelt ist anstatt auf zwei Beinen zu stehen. Otto hatte es zur Wurstbude verschlagen. Auf den zweiten Ruf seiner Mutter kam er angelaufen und machte sich am Gemüsestand zu schaffen. Er wackelte dermaßen an den Regalen, dass der Gemüsekäufer sich sorgte, sie würden zusammenbrechen. Otto schaffte das Künststück, Gemüse zu finden und aus den Regalen zu nehmen, das seine Mutter noch nicht in ihren randvollen Körben hatte.
Der Gemüseverkäufer wollte die Situation beruhigen und reichte Klein-Otto eine Karotte. Die Mutter bestätigte, dass Otto bereits Karotten esse (Subtext: Otto ist ein gutes Kind, das viel gesundes Gemüse ist, also auch Karotten!), jedoch bemerkte ich eine Unsicherheit in ihrer Stimme. So als traue sie ihrer eigenen Aussage nicht über den Weg. Otto bedachte daraufhin die Karotte mit einem verächtlichen Blick.
In diese Spannung, die in der Luft lag, kam plötzlich Otto-Vater angerauscht und orderte weiteres Gemüse. Er erweiterte den Korb um Grünes wie Petersilie und Schnittlauch, gab dem Ganzen also durch die Kräutergarnitur seinen patriarchalischen Segen. Der Gemüseverkäufer erfasste die Situation mit bestechendem Scharfsinn, denn er fragte nun die einzige sich daraus schließende logische Frage: „Bezahlt der Vater oder die Mutter?“ Es geht nicht um Mann und Frau, nein, es geht um Vater und Mutter, denn die Welt ist völlig auf Otto ausgerichtet; auf Otto, den Tyrann von Elterns Gnaden.
Während die Mutter, ohne auf die Frage des Verkäufers zu antworten, das Gemüse bezahlt, jagt Otto-Vater Otto hinterher, der sich wieder zur Wurstbude aufgemacht hat. Der Verkäufer nennt die Summe, die Otto-Mutter zu bezahlen hat. Die Höhe der Summe bringt mich wieder ins Staunen, sodass mir fast meine Tomaten, die ich schon lange in der Hand halte, auf den Boden fallen. Wieso soviel Gemüse, wo Otto doch keine Karotten mag? Was treibt Eltern an, einen Tyrannen zu züchten? Und wieso diese tyrannische Zucht unter einem Berg von Gemüse verstecken, anstatt sie an der Wurstbude aufrichtig zur Schau zu stellen? Mich schaudert vor dem Gedanken, dass nur Verlogenheit die Demokratie erhält, weil es viele sich bloß nicht trauen, zur Tyrannei zu stehen. Wird Otto seine Herrschaft auf seine Eltern beschränken, oder wird er eines Tages die Welt beherrschen wollen? Hat der Mensch mehr Hunger nach Macht als nach Gemüse, weil er es nicht anders kennt?