„Da steht mein Vater“, sagte Vorderbrandner.
„Dein Vater ist seit fast zwanzig Jahren tot“, sagte ich. Wir spazierten durch den Park. Es war abends, bereits dunkel. Der Mond schien hell.
„Da steht mein Vater“, sagte Vorderbrandner. „Da!“ sagte er, und deutete auf eine Stelle vor sich. „Siehst du ihn denn nicht?“
„Wo denn?“
„Da! Sieh nur, wie aufrecht und aufgeschlossen er da steht. So kenne ich ihn nicht. Ich kenne meinen Vater nur als geknickten Mann, der einen großen Sack Trauer mit sich herumschleppt, den er mit niemandem teilt. Jetzt steht er da, aufrecht und selbstbewusst. Still! Er spricht zu mir:“
„Ich bin 53 Jahre alt. Ich will sterben. Es ist Zeit zu gehen.“
„Hast du das gehört? Wie er das gesagt hat! So gütig und würdevoll. Ich kann ihm nicht böse sein. Es ist gut. Mein Gott, siehst du ihn denn nicht?“ flehte Vorderbrandner mich an. „Wie das Mondlicht ihn bescheint! Sein Gesichtsausdruck – ich kann ihn nicht beschreiben, weil ich ihn einfach nur bewundere.“
„Da! Da kommt ein zweiter Mann. Ich schwöre es dir! Ich weiß nicht, woher er kommt. Vielleicht ist er den kahlen Bäumen des März entstiegen wie eine Knospe im Frühling. Er stellt sich neben meinen Vater. Er ist etwas jünger als mein Vater, ohne Zweifel. Wer ist das?“
Vorderbrandner stand mit konzentriertem Blick neben mir, und ich spürte: Ich darf ihn nicht unterbrechen.
„Es ist mein Großvater“, sagte er plötzlich. „Natürlich, es ist mein Großvater. Wie sie dastehen, so voller Güte und dennoch seltsam entrückt und unnahbar. Sie sehen mich an. Sie sagen nichts. Nichts, was ich hören kann. Doch sie sagen ganz deutlich mit ihren Gesichtern: Wir wollen sterben.“
Dann war es still. Vorderbrandner sagte nichts. Sein Blick entspannte sich etwas, und doch war noch immer eine große Konzentration in seinen Augen.
„Was ist jetzt?“ fragte ich vorsichtig.
„Sie haben sich umgedreht und sind weggegangen. Dort vorne bei den Bäumen gehen sie, friedlich und einträchtig. Ich glaube es geht ihnen gut. Ich lasse sie gehen.“
Wir standen da, im Mondlicht des kalten Märzabends. Vorderbrandner redete weiter:
„Ich begreife jetzt, warum ich mich oft dem Tod so nahe, so vertraut gefühlt habe. Weil ich so sein wollte wie mein Vater. Und was will ein Sohn mehr als sterben, wenn sein Vater sterben will.“
Vorderbrandner fing laut zu schreien an. Er rannte wie wild umher und schrie aus voller Kehle:
„Nein! Nein! Ich will nicht sterben. Ich will leben! Ich liebe das Leben doch über alles!“
Er warf sich auf den Boden und begann hemmungslos zu weinen.
Ich stand daneben, im hellen Mondlicht. Es sprach aus mir wie ein Gebet:
„Vorderbrandner, du lebst! Und wie du lebst! Deine Wut und deine Tränen zeugen von deiner unbändigen Lebenskraft. Die Zeit wird kommen, da wirst auch du sterben wollen. Doch jetzt wirst du leben, leben, leben!“