Mitterbichler stand vor meiner Tür, mit einem lustigen Holzgestell auf Rädern. Was das sei? fragte ich ihn.
„Das ist ein Registrierwagen, von mir selbst gebaut“, sagte Mitterbichler.
„Ein Registrierwagen, von dir selbst gebaut? Und was willst du damit?“
„Ich will die Behörden unterstützen beim Registrieren der Flüchtlinge“, sagte Mitterbichler. „Komm mit mir zum Bahnhof!“
Ich sah Mitterbichler verständnislos an. Ich wollte ihm sagen, dass ich seine Idee absurd finde, mit diesem selbstgebauten Holzgestell auf Rädern zum Bahnhof zu fahren und Flüchtlinge zu registrieren. Doch ich sagte nichts, sondern kam mit ihm mit. Ich war zu neugierig auf das, was Mitterbichler vorhatte, um mich ihm zu widersetzen.
Am Bahnhof sauste Mitterbichler wie wild mit seinem fahrenden Holzgestell durch die ankommenden Flüchtlinge. Wie ein Schäferhund durch seine Schafherde. Ich war mit ihm auf dem Gestell und klammerte mich daran, um nicht herunterzufallen.
„Wer möchte sich registrieren?“ rief Mitterbichler in die Menge. „Hier ist es möglich.“
„Die verstehen doch kein Deutsch!“ rief ich dazwischen, während Mitterbichler eine Kurve machte und ich beinahe vom Holzgestell fiel.
„Anybody would like to register? Here it is possible!“ rief Mitterbichler nun, als ich endgültig vom Holzgestell gefallen war.
Mitterbichler hielt an, und ich sagte daraufhin zu ihm: „Ich gehe nachhause. Das macht keinen Sinn. Die Leute kommen nicht hierher, um sich registrieren zu lassen.“
„Es geht auch nicht um die Leute“, sagte Mitterbichler. „Es geht um die Behörden, denen wir Arbeit abnehmen.“
„Wieso willst du den Behörden Arbeit abnehmen?“
„Das ist eine Idee, die ich gut finde.“
Ehe ich erwidern konnte, sagte Mitterbichler zu einem Vorbeikommenden: „Hey du, willst du dich registrieren lassen?“
„Wieso denn registrieren?“
„Wieso denn nicht?“
Ich weiß nicht wieso, doch ich wurde neugierig. Das ist immer so mit Mitterbichler: Bin ich auf dem Absprung, passiert irgendetwas, dass ich an Bord bleibe.
Ich fragte nun den Vorbeikommenden: „Bist du ein Flüchtling?“
„Kann man so sagen.“
„Wie? – Kann man so sagen? Du sprichst perfekt deutsch. Du bist doch kein Flüchtling.“
„Doch. Ich bin dauernd auf der Flucht. Bin ich hier, flüchte ich nach dort. Bin ich dort, flüchte ich nach hier.“ Er hatte sich mittlerweile auf das Holzgestell gesetzt. Offensichtlich hatte er eine Verschnaufpause nötig, von seinem rastlosen Von-hier-nach-dort.
„Was ist hier, was ist dort?“
„Hier ist Bayern, dort ist die Türkei. Oder umgekehrt.“
„Wie heißt du überhaupt?“ fragte Mitterbichler, wohl an seinen selbstgestellten Registrierungsauftrag denkend. Zumindest schließe ich das aus der Vehemenz, mit der er diese Frage stellte.
„Bulut Bayernhaupt.“
„Bayernhaupt!“ meinte Mitterbichler mit einem Ausdruck des Entzückens. „Horst Seehofer würde gern Bayernhaupt heißen. Horst Bayernhaupt – HBH. Jedesmal, wenn er am Hofbräuhaus vorbeigeht, würde er seine Initialen sehen.“
„Bayernhaupt ok, aber wieso Bulut?“ funkte ich dazwischen.
„Scholl ok, aber wieso Mehmet?“ äffte Mitterbichler mich nach und übernahm wieder die Initiative: „Bulut, das klingt wie Bulle. Du bist doch kein Bulle?“
„Ach Schmarren“, meinte Bulut. „Bulut ist türkisch und heißt auf deutsch Wolke. Mein Vater sagt, ich bin in Bayern geboren, also soll ich seinen Nachnamen haben. Meine Mutter sagt, ich bin der Sohn einer Türkin, also soll ich einen türkischen Vornamen haben.“
„Das ist eine schöne Geschichte“, sagte ich. „Schön?? Gezeugt, getrennt. Meine Mutter ist in der Türkei, mein Vater in Bayern. Wenn ich bei meiner Mutter bin, will ich bei meinem Vater sein. Und umgekehrt. Und manchmal will ich überhaupt nirgends sein. Mich auflösen wie eine Wolke. Meine beschissenen Eltern!“
„Bulut, du sollst Frieden mit deinen Eltern schließen“, sagte ich.
„Lass ihn in Frieden!“ meinte Mitterbichler in wirschem Ton zu mir.
„Aber es ist doch nicht gut für ihn, sich dauernd in seiner Scheiße zu wälzen.“
„Dauernd? Du kennst ihn ein paar Minuten. Lass ihn. Vielleicht ist Scheiße etwas Gutes für ihn und er nennt es nur Scheiße.“
Ich fühlte mich in die Enge getrieben von Mitterbichler und drehte mich um zu Bulut. Doch er war nicht mehr da. Hatte sich während der Diskussion zwischen Mitterbichler und mir unbemerkt aus dem Staub gemacht. Sich aufgelöst wie eine Wolke, um ihn zu zitieren.
So saßen wir zu zu zweit auf dem Holzgestell, während die Leute an uns vorbeiströmten.
„Sollen wir nun endlich Flüchtlinge registrieren?“ sagte ich zu Mitterbichler; mehr hilflos als überzeugend.
„Nein. Einer reicht für den ersten Tag. Wir wollen uns nicht übernehmen“, sagte Mitterbichler in einem für ihn so typisch selbstüberzeugten Ton.
„Wieso einer? Bulut ist doch kein Flüchtling!“ versuchte ich mich Mitterbichlers Entschlossenheit zu widersetzen.
„Bulut ist ein Flüchtling. Er hat doch selbst gesagt: Ich bin dauernd auf der Flucht.“
„Ja, aber…“
„Bestimmst du, ob jemand Flüchtling ist oder der, der es von sich sagt?“
Mitterbichler stieg auf das Holzgestell und rauschte davon. Ich war so verwirrt, dass ich im Moment nichts anderes zu tun wusste, als ihm zu folgen.