Gefangenhalting

Mein Vater war ein zerrissener Mensch: Er schwärmte von bäuerlichen Leben am Berg und arbeitete in der Metallfabrik im Tal. Wir wohnten direkt unterhalb des Stoissbergs, der Keimzelle des Namens Hinterstoisser. Auf den hinteren Hängen des Stoissberges lebte einst ein Mann, der als erster den Namen Hinterstoisser erhielt. Unterhalb des Stoissbergs, in der Ortschaft Anger, wo wir wohnten, war es während der Wintermonate sehr schattig. Meine Mutter, die in dem ebenfalls schattigen Dorf Aufham ihre Kindheit verbrachte, wollte deshalb in die Stadt Freilassing ziehen, die nördlicher liegt und nicht mehr im Schatten der Berge. Außerdem, sagte meine Mutter, ist es praktischer, wenn wir in der Stadt leben und nicht in diesem Kaff. Du arbeitest doch sowieso dort, sagte meine Mutter zu meinem Vater, und ich werde dort auch Arbeit finden.

Aber mein Vater wehrte sich vehement gegen diese Pläne meiner Mutter. Ein Hinterstoisser, das sei nun mal Gesetz, habe auf dem Stoissberg oder zumindest am Fuße des Stoissbergs zu wohnen. Nach Freilassing kannst du alleine ziehen, sagte mein Vater zu meiner Mutter, obwohl er täglich nach Freilassing zur Arbeit in die Metallfabrik fuhr. Freilassing, sagte mein Vater weiter, hat den völlig falschen Namen. Es ist eine Ausgeburt an Häßlichkeit, und ich frage mich, wie man dort wohnen kann. Dort kann man doch nicht freiwillig sein mögen. Ich glaube, alle, die in Freilassing wohnen, werden dort gefangen gehalten, und deshalb sollte es Gefangenhalting heißen und nicht Freilassing.

Sollte es nicht Gefangennehming heißen, wandte ich ein: Ich meine – man kommt nach Freilassing und wird dort gefangen genommen und nicht mehr frei gelassen. Das Gegenteil von frei lassen ist doch gefangen nehmen und nicht gefangen halten. Mein Vater hatte keine Lust, in diese Diskussion einzusteigen, und verschwand in den Keller, um dort ein oder mehrere Bier zu trinken.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen, ihn mit meinen spitzfindigen Überlegungen vergrault zu haben, und dachte weiter, dass sowohl gefangen nehmen als auch gefangen halten das Gegenteil von frei lassen sein kann, denn jemanden frei lassen kann sowohl bedeuten, ihn oder sie in die Freiheit zu entlassen, aber auch ihn oder sie in der Freiheit zu belassen. Insofern hatte mein Vater völlig recht, Freilassing Gefangenhalting und nicht Gefangennehming zu nennen, und ich fühlte mich schuldig, ihn dazu veranlasst zu haben, in den Keller zu gehen und ein oder mehrere Bier zu trinken.

Freilassing blieb ein Reizthema zwischen meinen Eltern. Als kleiner Bub war ich auf der Seite meines Vaters: Ich liebte es, an den Hängen des Stoissbergs herumzustreifen, in den Wäldern Hütten zu bauen oder kleine Wasserläufe aufzustauen, und ich wünschte mir sehnlichst, nicht nur am Stoissberg, sondern auf dem Stoissberg zu wohnen. Was sollte ich in Freilassing?

Je älter ich jedoch wurde, desto mehr schlug ich mich auf die Seite meiner Mutter. Freilassing wurde immer interessanter, mit seinen Läden und Menschen und Mädchen. Mit seiner Nähe zu Salzburg, das man von dort mit dem Zug in ein paar Minuten erreichen kann. Wäre nicht die künstlich gezogene Staatsgrenze zwischen Deutschland und Österreich, wäre Freilassing quasi ein Teil der Stadt Salzburg, eine westliche Vorstadt. Immer öfter wollte ich mitkommen zum Einkaufen nach Freilassing, und wenn wir wieder nachhause fuhren, wollte ich am liebsten dort bleiben. In Anger, an den Hängen des Stoissbergs, gefiel es mir immer weniger, und mein Vater wurde sehr unglücklich darüber, dass ich nicht mehr mit ihm an den Hängen des Stoissbergs umherstreifte, sondern nach Freilassing fuhr, sooft ich nur konnte.

Einmal, ich war gerade dabei, mein Fahrrad zu schnappen und nach Freilassing zu radeln, schnauzte mich mein Vater in seiner Verzweiflung an, warum ich denn schon wieder in dieses Drecksnest fahre. Weil ich mich in Freilassing frei gelassen fühle, und nicht wie hier gefangen gehalten, schnauzte ich zurück. Die Dinge hatten sich gedreht. Was für meinen Vater Gefangenhalting war, war für mich Freilassing und umgekehrt.

Ich spüre noch die Luft, die mich umwehte, als ich nach Freilassing radelte, während mein Vater in den Keller verschwand, um ein oder mehrere Bier zu trinken.