Als reflektierter Vierjähriger fragte ich meine Mutter: „Warum kann ich ohne dich nicht glücklich sein?“
„Was redest du denn?“ antwortete meine Mutter: „Du bist doch glücklich! Und jetzt auf zum Spielplatz mit uns!“
Auf dem Spielplatz rief ich nach meiner Mutter, damit sie sieht, wie hoch ich schon schaukeln kann. Doch sie hörte mich nicht, so laut ich auch rief. Ich schwang mich tollkühn immer höher, dass ich vor Glückseligkeit zu jauchzen begann, bis ich einen Schuh verlor. Der Schuh flog in hohem Bogen auf ein Auto, das am Straßenrand geparkt war. Den fliegenden Schuh hatte meine Mutter bemerkt, im Gegensatz zu meinem Rufen. Sie lief zum Auto, um den Schuh zu holen. fiel dabei jedoch über das Bein von Paul, meinem Kindergartenkameraden, der gerade an einem Erdbeereis schleckte. Während meine Mutter mit dem Kopf im Sand lag, wurde Paul von seinen Eltern getadelt. Doch Paul grinste nur, und ich grinste mit ihm, während sein Eis, das schief und schmelzend in der Waffel hing, auf die Hosenbeine seiner Eltern tropfte.
„Paul, jetzt sind unsere Hosen dreckig!“ schimpfte die Mutter, während der Vater mit erdbeereisfleckiger Hose auf die Straße eilte, um meinen Schuh zu holen. Als er zurückkam, meinen Schuh in der Hand, sagte er zu seiner Frau: „Der Wagen, auf den der Schuh geflogen ist, ist genauso metallicbraun lackiert wie der deiner Eltern! Doch ganz sicher bin ich mir nicht, der Wagen ist zíemlich dreckig.“
Pauls Mutter hörte ihm nicht zu, weil sie immer noch mit Paul schimpfte.
Meine Mutter hatte sich währenddessen aufgerappelt. Sie blutete aus der Nase, so hatte es sie auf die Fresse gehauen. Meine Mutter die Märtyrerin.
„Nicht gebrochen“, meinte Pauls Vater, „das sehe ich!“
Er reichte ihr ein Taschentuch und half ihr zur Bank. Als Pauls Mutter fertig geschimpft hatte, kam auch sie zur Bank und entschuldigte sich bei meiner Mutter: „Paul ist ein Bengel. Das war das letzte Eis für länger! Er weiß sich einfach nicht zu benehmen!“
Ich hüpfte von der Schaukel und auf einem Bein rüber zur Bank. Pauls Vater gab mir meinen Schuh. Meine Mutter hielt sich ihre Nase, um das Blut zu stoppen. Mich beachtete sie nicht. Ich ging wieder weg von den Erwachsenen und hinüber zu Paul, der mit dem Kopf nach unten Kringel in den Sand zeichnete. Nach ein paar Minuten stand meine Mutter auf und ging Richtung Straße. Ich lief ihr nach.
Wortlos gingen wir die Straße entlang. Bis meine Mutter zu reden begann. Wobei sie das Kunststück fertigbrachte, ärgerlich und weinerlich zugleich zu klingen: „Immer muss ich für dich da sein, und du machst was du willst! Immer denkst du nur an dich!“
Ich blieb stehen. Sie bemerkte es nicht und ging ärgerlich und weinerlich weiter. Ich sah ihr nach wie sie davonging und bemerkte schmerzlich, wie ich zurückblieb. Eine ausweglose Traurigkeit legte sich über mich, während meine Mutter sich Schritt für Schritt von mir entfernte.
Vierzig Jahre später sehe ich Miriam nach, wie sie die Straße entlanggeht, und ich spüre wieder diese ausweglose Traurigkeit. Dabei kann Miriam gar nicht wissen, dass sie auf mich warten soll. Sie hat mich noch gar nicht gesehen. Ich rufe ihr nach, für den verstummten Vierjährigen: Ganz egal woran ich gerade denke, am Ende denk ich immer nur an dich.