Fortsetzung von Teil 1
Zu Salzburg gehörte der Rupertiwinkel über Jahrhunderte, bis Österreich und Bayern das Land an der Salzach 1816 unter sich aufteilten: Der Rupertiwinkel westlich der Salzach kam zu Bayern und der große Rest zu Österreich. Die Hinterstoissers sagen bis heute von sich, sie seien eine Salzburger Familie: Sie kommen aus dem Rupertiwinkel, vom Högl, in dessen Umgebung sie, mit wenigen Ausnahmen, über die Jahrhunderte blieben. Vom Högl in die zwanzig Kilometer entfernte Stadt Salzburg zu ziehen, was einige taten, galt familienintern als Unverschämtheit. Ein Umzug ins ferne München war unvorstellbarer Verrat. Die willkürlich Grenzziehung von 1816 traf unsere stolze Sippe ins Mark, sagte mein Großvater, und ich, Emil, der ich den Hinterstoisserschen Stolz in mir trage, fühle mich weder als Österreicher noch als Bayer. Ich bin ein Rupertiwinkler.
Wie ging es weiter mit meinen Expeditionen von München Richtung Ostsüdost? Eines Tages, es ist nun schon einige Jahre her – Josefine war gerade in Frankfurt, glaube ich mich zu erinnern, jedenfalls war sie nicht in München – trieb mich alles in mir in den Rupertiwinkel: Ich setzte mich in ein verfügbares Automobil und fuhr auf die Autobahn acht, die den Streifen zwischen München und Rupertiwinkel durchquert, ich rollte ostsüdostwärts wie in Trance, ich hielt nicht am Chiemsee, ich bog auch nicht nach Traunstein ab, und als ich im Rupertiwinkel angelangt war, kam auch eine Weiterfahrt nach Salzburg nicht in Betracht. Stattdessen fuhr ich an den Fuß des Högls. Unweit meines Elternhauses stellte ich das Automobil ab und rannte durch den Wald aufwärts. Ich kam auf die Wiese, wo die Gräser grün und der Löwenzahn gelb in der Sonne leuchteten. Hier war ich hochgerannt als Pubertierender, als mir das sündige Mannwerden zu viel geworden war. Ich rannte keuchend weiter über die Wiese, hoch bis zum Waldrand. Dort blieb ich stehen und blickte talwärts. Die Bäume standen schützend hinter mir. Ich erinnerte mich, dass ich genau an dieser Stelle das erste Mal ejakuliert hatte: Hier hatte mich das sündige Mannsein mit voller Wucht getroffen und mich schluchzend und schamhaft ins Tal zurückkehren lassen.
Ich stand an diesem schicksalshaften Ort, und die Zeit schien keine Rolle mehr zu spielen. Mir wurde klar, dass es die Vergangenheit nicht gibt, nur die Gegenwart mir ihren Gedanken über sie. Ich spürte meine Manneskraft und war gerne in meinem Körper, alles in mir, jede Zelle, jubelte dem Leben zu. Ich hatte nicht gedacht, dass mir das am Högl, im Rupertiwinkel, passieren würde. Trotzdem stieg ich bald wieder ab ins Tal, dort ins Automobil, und fuhr zurück nach München, wo ich am gernsten bin.