Wladimirs Input

Vorderbrandner und ich sitzen am Fenster, das nach Südwesten ins Freie geht. Wir blicken in die Sonne des Frühlingsnachmittags. Ich genieße die Stille des Moments, auch wenn er eine gewisse Ratlosigkeit in sich trägt, oder gerade wegen der Ratlosigkeit, die er in sich trägt. Bis Vorderbrandner die Stille jäh unterbricht:

Werden alle Ukrainer, die in diesen Tagen nach Deutschland kommen, auf Corona getestet? Werden Schnelltests verwendet oder wird dafür in PCR-Tests investiert? Wie ist die Impfquote in der Ukraine? Gab es vor der Flucht Kontakt mit der russischen Armee? Wie ist die Infektionslage in der russischen Armee? Das sind Fragen, die vor dem 24. Februar über das Wohl und Wehe der Menschheit entschieden haben. Man kann doch nicht so tun, als ob es die eine Krise nicht mehr gibt, nur weil sie von einer anderen abgelöst worden ist. Oder ist Krise nur das, was getwittert wird? Hätten wir weniger Krisen, wenn weniger getwittert würde? Bin ich zynisch, und wenn ja, gibt es dazu eine Alternative?

Vorderbrandner beendet seine Rede, es herrscht wieder Stille. Ich blicke aus dem Fenster und sehe zwei zeternde Amselmännchen, die ihr Revier abstecken für die kommende Brutsaison.

Vorderbrandners Handy klingelt:
Yes…yes…yes Wladimir, please come over and put in your input! sagt er und legt auf.
Ich blicke ihn fragend an.
Ein gewisser Wladimir war dran. Er will rüberkommen. Er sagte mit slawischem Akzent: I want to put in my input! Klingt spannend, oder?

Ich nicke und blicke wieder zum Fenster hinaus. Stille. Auch die Amseln zetern nicht mehr. Er will rüberkommen? Von wo rüberkommen? Put in his input? Es wird doch nicht der Wladimir sein?

Ich stelle mir vor, dass wir zu dritt hier am Fenster sitzen, Vorderbrandner, Wladimir und ich, und in die Sonne des Frühlingsnachmittags blicken. Still. Nichtssagend. Oder werden die Amseln wieder zetern? Oder soll ich vor Vladimir ein paar Zeilen Dirk von Lowtzows deklamieren? Ja, ich werde diese Zeilen Dirk von Lowtzows deklamieren:

Weil sie nicht warten kann
gewinnt sie diesen Kampf
wird die Liebe siegen
spürst du nicht:
Sie wird uns kriegen.

Worte, Worte, nichts als Worte, aber mir fallen keine anderen ein. Ist mein Verhältnis zu Worten zwanghaft? Merkwürdig finde ich, dass die Zeilen von Lowtzows mit kriegen endet. Kommt kriegen von Krieg? Andererseits: Kampf und Krieg – vielleicht wird Wladimir mit diesen Vokabeln zu kriegen sein? Oder ist Stille die bessere Option, auch für mich?

Ich beschalle den Raum mit Liebe von Tocotronic, um mich auf unser Treffen mit Wladimir vorzubereiten, wie auch immer es verlaufen wird. Vorderbrander blickt währenddessen sehr konzentriert in die sich nach Westen neigende Frühlingssonne: