München ist eine Stadt, sagt Vorderbrandner, kein großgewordenes Dorf. Planmäßig angelegte Prachtstraßen führen nach Westen (Brienner Straße), nach Norden (Ludwigstraße) und nach Osten (Maximilianstraße). Warum nach Süden keine Prachtstraße führt, ist mir ein städtebauliches Rätsel: München, die nördlichste Stadt Italiens, besitzt keine Prachtstraße nach Süden, nach Rom?
Dafür, und das muss der Vollständigkeit halber erwähnt werden, besitzt München eine zweite Prachtstraße nach Osten, die Prinzregentenstraße. Angelegt von keinem König, sondern von Prinzregent Luitpold als bürgerlicher Boulevard, wurde sie im Dritten Reich vom ungekrönten König Adolf mit riesigen, steinwüstenartigen Protzbauten versehen. Sie endet nicht wie ihre Schwestern monumental (Brienner Straße: Propyläen; Ludwigstraße: Siegestor; Maximilianstraße: Maximilianeum), sondern geht hinter dem Monument des Friedensengels weiter bis zum Stadtrand, über den Prinzregentenplatz und den Mittleren Ring bis zum Vogelweideplatz, an dem früher niemand hauste außer die Zigeuner, traditionell das randständigste Volk einer Gesellschaft, zugleich aber das Leben an sich wie kein anderes verkörpernd.
Am Vogelweideplatz, an dem man auch heute nicht verweilen, sondern sich beeilen will, geht die Prinzregentenstraße in die Autobahn 94 über, die dann in weiterer Folge die ländlichen Weiten des östlichen Oberbayerns durchpflügt. Doch rechts davon, auch vom Vogelweideplatz weg, zweigt die Truderinger Straße ab, und führt nach Trudering.
Trudering ist ein großgewordenes Dorf, das 1932 nach München eingemeindet wurde. Und trotzdem hört München am Vogelweideplatz noch immer auf. Von hier aus geht es aufs Land, und folgt man der Truderinger Straße, nach Trudering. Zunächst trifft die Truderinger Straße auf Bahngleise, an denen sie nördlich entlangführt. Auf der anderen Seite stehen Industriegebäude, und vor mir türmt sich der Turm des Süddeutschen Verlages.
Beim Turm angekommen, muss die Truderinger Straße einen Rechts-Links-Haken schlagen: Sie geht scharf nach rechts, um die Geleise der Bahnstrecke München – Rosenheim zu unterqueren. Diese stark frequentierte Bahnstrecke, bereits in den 1860er Jahren erbaut, zerschneidet den Münchener Osten, besonders Trudering, in Straße und Kirche, doch dazu später.
Die Geleise unterquert, kommt die Truderinger Straße nach Berg am Laim, einem ehemaligen Dorf östlich von München, eingemeindet 1913, ein Industriestandort der ersten Stunde, weil der Wind meist von Westen weht und die schlechten Gerüche so nicht in die Stadt, sondern ostwärts weitergetrieben wurden, nach Trudering. Apropos Trudering: Nun ist der linke Teil des Hakens dran, gleich nach der Gleisunterquerung, es geht nicht weiter nach Berg am Laim, sondern wieder zielstrebig nach Osten. Und gleich wird es ländlich. Rechts, hinter einer Eschen-Allee, taucht ein freies Feld auf, ein Relikt aus bäuerlicher Zeit, das dem Ausflug nach Trudering eine ländliche Note gibt.
Doch das Feld endet bald und weicht einer beidseitigen Bebauung: Hier ist München keine Stadt mehr, sondern großgewordenes Dorf, die Besiedlung und Bebauung franst sich in die Landschaft. Und so geht das kilometerweit weiter – kurz unterbrochen durch einen Schrebergarten, das Grün der Pflanzen, Sträucher und Bäume gibt Hoffnung, dass das Land bald erreicht wird – doch beim Schatzbogen, der Truderinger Straße und Geleise in einem weiten Betonbogen überquert, weicht diese Hoffnung wieder. Weiter zum Truderinger Bahnhof, wo Fernzüge vorbeirasen, S- und U-Bahnen halten.
Bald danach kommt so etwas wie Mini-Urbanität auf. Straßtrudering ist erreicht, wo die Truderinger Straße im Moment eine Baustelle ist, um schöner zu werden, um die Verweilqualität zu erhöhen, wie Ortsplaner gerne sagen.
Ich bin, ich kann es so sagen, im Zentrum Truderings. Doch eine Kirche, Merkmal jedes bayrischen Dorfes, auch eines großgewordenen, suche ich vergeblich – die steht jenseits der Geleise, in Kirchtrudering. Die Truderinger Straße schert sich nicht um Kirchtrudering, sie ist eine Straß und begnügt sich mit Straßtrudering, ja, sie geht, obwohl sie Straßtrudering erreicht hat, weiter, nach Osten, dann macht sie eine kleine Schleife nach Süden und mündet in die Wasserburger Landstraße, eine Hauptverkehrsachse aus dem und ins Zentrum Münchens. Das Schicksal einer Hauptverkehrsachse blieb der Truderinger Straße erspart, sie ist so etwas wie ein Schleichweg zwischen Autobahn 94 und Wasserburger Landstraße. Sie schleicht mit einer gewissen Nostalgie, nie groß- sondern immer nur zweispurig, durch Suburbania.
Was nun, am Ende der Truderinger Straße? Soll ich mich die Wasserburger Landstraße hinauswälzen durch die großgewordenen Dörfer, bis ich irgendwann auf dem Land bin? Man kann von Glück reden, sagt Vorderbrandner, dass es die Demokratie nicht schon immer gibt. Sonst gäbe es keine Städte, sondern nur großgewordene Dörfer. Sonst würde alles so aussehen wie zwischen München und Trudering.