Ich denke an das talentierte Klageweib aus Irland, wobei: das Wort Denken gefällt mir nicht, Denken ist nur die Spitze des Eisbergs, es ist mehr als Denken, ich tauche ein ins Meer des Lebens, ich begegne ihr, wie es Gedanken allein nicht können: Dolores war ihr Name, Dolor – der Schmerz, in den Schmerz hinein aber nicht durch ihn durch, im Schmerz steckenbleiben, viele beneiden Dolores dafür, in den Schmerz hineingekommen zu sein, viele kommen ihr Leben lang nicht in den Schmerz hinein und sterben, ohne gelebt zu haben, sie kam hinein aber nicht durch ihn durch, sie sang beim Papst, das Singen beim Papst war der Anfang vom Ende, das Papsttum, das Oberheuchlertum der Menschheitsgeschichte, Dolores glaubte an die Männer und die Männer an den Papst, drei Männer als Moosbeeren stehen und sitzen hilflos um sie herum, an Gitarre, Bass und Schlagzeug, als The Cranberries, sie geben Rhythmus und Takt, während Dolores durch ihre Stimme ihr Leid klagt, aus dem es kein Entrinnen gibt, sagt der Papst, und sie glaubt ihm.
Meine Begegnung mit Dolores im Meer des Lebens ist eine intensive, doch in diese Begegnung platzt plötzlich ein Schwarm christlich-sozialer Demokraten, so nennen sie sich, ohne sich darüber einig zu sein und fragen: Laschet oder Söder als Kanzler? – Laschet oder Söder? Baerbock! Frauen an den Machtgebrauch, Männer weg von ihrem Missbrauch! Ich dränge den Schwarm zur Seite und lasse mich nicht länger ablenken, kehre zurück zum irischen Klageweib Dolores, das die Stimme erhebt und gehört wird, aber sich selbst nicht hört. Ihre Stimme verstummt.
Die Stimme verstummt. Bleibt im Hals stecken. Runterschlucken was raufwill. Mit Alkohol und Tabletten. Wie Marion. Marion ist heute vor 37 Jahren gestorben, das nennt man wahrscheinlich die journalistische Relevanz dieses Textes.
Marion Koeppen, 1927 in München geboren als Marion Ulrich, bürgerliche Dekadenz im Elternhaus in Schwabing, Saufgelage mit Künstlern, die Mutter stirbt während des Krieges als Fünfzigjährige am Alkohol, da hatte Marion als Sechzehnjährige bereits Wolfgang Koeppen kennengelernt, heiratet ihn wenige Jahre später und nimmt ihn auf in das brüchige Idyll des Elternhauses, in das Idyll, das 1963 endet, als Marions Vater stirbt. Verkauf und Abriss des Hauses. Die Schicksalsgemeinschaft mit Ehemann Wolfgang bleibt bis zu ihrem Tod bestehen. Mit Wolfgang Koeppen, mehr als zwanzig Jahre älter als Marion, dem Schreiberling, der in den 1950er-Jahren berühmt wird mit seiner Romantrilogie über das Westdeutschland in der Nachkriegszeit und danach fast nichts mehr veröffentlicht. 1967 finden sie mit finanzieller Hilfe aus dem Literaturbetrieb das Refugium im Haus Widenmayerstraße 45, in dem sie ihr Drama als zunehmend einsames Paar weiterführen.
Was ist meine Rolle in diesem Drama? Bin ich Wolfgang Koeppen? Der Mann, der die Frauen liebt und doch nur mit denen eine Beziehung eingeht, an denen er verzweifelt? Die Frau als Ablenkung des Mannes von sich selbst?
Die U-Bahn hält seit 1970 an der Ungererstraße in Schwabing, wo das Elternhaus Marion Koeppens stand. Ich gehe in den Untergrund und steige in den Zug, der mich zum Nordfriedhof bringt. Dort sind Marion und Wolfgang Koeppen begraben.
Ich bin allein im Zug, was mir nicht oft passiert. Mitten am Tag in der Millionenstadt. Ich genieße das Alleinsein, das Alles-in-Einem-Sein im Meer des Lebens. Ich spüre, dass Frauen und Männer miteinander leben können, um sich zu ge- und nicht zu missbrauchen.
Marion singt, endlich findet sie ihre Stimme: Sie singt ein Klagelied. Was sonst? Vor dem Schmerz erstarren? Im Schmerz steckenbleiben? Nein, durch den Schmerz durchgehen: There’s no need to argue anymore.