für Lucie und Amelie, meine Lehrmeister
„Was ist denn?“ frage ich sie und erwarte eine Antwort. Aber sie bleibt reglos auf dem Trampolin liegen, auf dem ihre Schwester hüpfen will, und schweigt. Etwas bewegt sie, das sehe ich, etwas, für das sie keinen Ausdruck findet, keinen sprachlichen zumindest, denn ihr Gesicht ist voller Ausdruck, sie lässt sich bewegen von diesem Etwas, gibt sich ihm hin und lässt sich von keinem Wort irritieren. Ich frage nicht weiter nach, ich spüre, es gibt nichts zu fragen, höchstens etwas zu ertragen, nichts zu sagen, was mit Sprache zu klären wäre, im Gegenteil, die Klarheit verschafft sich durch das Schweigen Raum. Sogar ihre Schwester schweigt, anstatt sich auf dem Trampolin Platz zu verschaffen.
Dann aber – schweigende Klarheit ist nicht so leicht zu ertragen mit den Gefühlen, die sie frei lässt – fängt ihre Schwester laut zu weinen an, während sie reglos auf dem Trampolin liegen bleibt. Ist jetzt der Augenblick, um als Erwachsener mit vernünftiger sprachlicher Intervention einzugreifen? Ich bin zu ergriffen von ihrem klaren Schweigen, um zu einer vernünftigen sprachlichen Intervention bereit zu sein, was ist das überhaupt, eine vernünftige sprachliche Intervention? Jedenfalls schlage ich vor, was ich mir selber oft vorschlage, um einer bedrückenden Situation den Druck zu nehmen, ich schlage vor, nach draußen zu gehen, in den Schnee, sie bleibt jedoch weiter ohne Regung auf dem Trampolin liegen, ihre Schwester rennt nun weinend aus dem Zimmer in den schützenden Schoß der Mutter. Nur mehr wir beide sind im Zimmer, sie richtet sich auf und sagt: „Ja, gehen wir Schlittenfahren!“
Wir packen uns warm ein und mäandern zum Schlittenhang, der ein gutes Stück von Zuhause entfernt ist. Wir biegen ab in Winkel, die wir noch nicht kennen, lassen uns in kleine Pfade leiten, die wir in unserer Muse entdecken wollen. Wir reden nichts. Sie summt eine Melodie, ich habe den Eindruck, sie gibt so ihrer Freude Ausdruck, ich nenne es Freude, wahrscheinlich gibt sie all ihren Gefühlen Ausdruck, den großen und mächtigen Gefühlen, die gleichzeitig so fein und nuanciert sind, dass sie sich jeder konkreten Benennung entziehen.
Wir verlassen unsere geheimnisvollen Pfade und kommen auf die Straße, die in den Park zum Schlittenhang führt. Sie sagt: „Ich habe meine Schwester gehört – ja bestimmt war sie das! Denn ich kenne ihre Laute sehr gut.“
„Vermisst du sie schon?“ frage ich.
„Nein, gar nicht“, sagt sie: „Wir streiten so viel, ich vermisse sie gar nicht.“
Als wir den Park erreichen, sehen wir – zu unserer Überraschung – ihre Schwester am Schlittenhang stehen. Sofort läuft sie los zu ihr, ihre Schwester läuft ihr entgegen, sie rennen so schnell sie können, sie rennen sich in die Arme, sie drehen sich und lachen laut, sie kugeln sich im Schnee.