Die Omama (Teil 1 der Hirsch-Dilogie)

Ich habe immer schon viel vorgehabt mit meinem Leben, sagt Vorderbrandner, aber meine Bitterkeit hat mich lange daran gehindert, mir das Viele vorzunehmen. Meine Bitterkeit gegenüber meiner Großmutter zum Beispiel, denn sie war ein sehr bitterer Mensch. Eine erste Wendung in meinem Leben ergab sich an jenem Abend im Jahr 1993. Was war geschehen?

Meine Großmutter war vor Kurzem gestorben, da lud mich ihre damals noch lebende Schwester nach Wien ein. Als Sechzehnjähriger dachte ich mir: Jetzt kriechen sie heraus aus ihren Löchern mit ihrem schlechten Gewissen, und ich soll dafür herhalten, es zu beruhigen. Ich hatte keine Lust, nach Wien zu fahren. Trotzdem stieg ich in den Zug. Wahrscheinlich hatte ich die Hoffnung, es würden sich andere Dinge ergeben, als in der alten muffigen Wohnung der alten Frau herumzusitzen.

Am Tag meiner Ankunft kam Franzi zur Schwester meiner Großmutter. Franzi war drei Jahre älter als ich, sie war die Enkelin der Schwester meiner Großmutter. Meine Großmutter hätte gesagt: meines Geschwisters Kinds Kind – Genitiv in Vollendung, Klarheit in der Sprache. Franzi war ein glühender Verehrer der Musik von Ludwig Hirsch, sie konnte Komm großer schwarzer Vogel mit ihrer Gitarre auswendig vortragen. Sie fragte mich: Kommst du mit ins Konzert heute Abend ins Volkstheater? Ludwig Hirsch war für mich damals ein morbider, lebensmüder Sinnierer mit wenigen lichten Momenten. Kein Wunder, dass Franzi niemand anderen gefunden hatte, der sie begleitet. Aber Franzi gefiel mir, mir gefiel die Vorstellung, ihr junger Begleiter und Liebhaber zu sein. Darf man Liebhaber eines Geschwisters Kinds Kind sein? Was darf man auf dieser Welt? Meine Großmutter hatte mir hauptsächlich erklärt, was man NICHT darf.

Wir waren recht früh im Volkstheater auf unseren Plätzen. Ich beobachtete die Leute, die in den Saal kamen und ihn füllten. Eine Magie erfasste mich. Als sei ich Teil eines verbotenen Abenteuers. Ich war in Wien, im Volkstheater, neben Franzi, um die verbotenen, dreckigen, morbiden Lieder des Ludwig Hirsch zu hören. Meine Großmutter konnte mich nicht daran hindern. Ich spürte knisternde Erregung in mir. Ich nahm Franzis Hand und drückte sie ganz fest. Franzi, meine Freiheit! Im nächsten Moment schämte ich mich dafür. Gleich danach wurde es dunkel im Saal. Ludwig Hirsch begann, seine Geschichten zu erzählen. Johnny Bertl suonierte auf seiner Gitarre. Als sie Die Omama vortrugen, hatten sie mich endgültig gepackt. Ich dachte daran, wie schlecht meine Oma Märchen erzählen konnte. Wie ich mich ärgerte, wenn sie beim Märchen der Sieben Raben immer von sechs Raben sprach, weil sie an ihre eigenen sechs Brüder dachte. Feen, Prinzen und starke Männer waren nicht ihre Welt – lieber sprach sie von Hexen, bösen Gestalten und Schwächlingen. Gefühle übermannten mich. Oma, du bitterer Mensch, trotz oder wegen der sechs Raben: Ich habe dich so geliebt! Ich saß in meinem Sessel und spürte, wie sehr mich meine Oma geliebt hat, auch wenn sie mir das nur auf ihre bittere Weise zeigen konnte. Franzi nahm mich an der Hand und Tränen flossen über meine Wangen. Jetzt wusste ich, was ich in meinem Leben machen will: die Gitarre spielen wie Johnny Bertl und Geschichten erzählen wie Ludwig Hirsch.

Der Abend im Volkstheater gilt heute als sehr lichter Moment im Schaffen des Ludwig Hirsch, als ein legendärer Vortrag. An der Gitarre, sagt Vorderbrandner, bin ich ein Rhythmusschraddler, weit weg vom Suonieren des Johnny Bertl. Im Geschichtenerzählen habe ich mehr Übung, aber ich erstarre immer noch vor Ehrfurcht, wenn ich daran denke, wie Ludwig Hirsch Die Omama erzählt hat, damals im Wiener Volkstheater im Jahr 1993. Franzi? Kurz nach Ludwig Hirschs Tod kletterte sie, in einer Art letztem Abenteuer, im Dunkel der Nacht auf die Kirche am Steinhof und stürzte sich in die Tiefe.

 

Die Omama 1993 im Wiener Volkstheater

 

In memoriam Franzi: Komm großer schwarzer Vogel