Die Zeit im Lauf der Zeit

Betrachtungen zum 29. Februar 2020

Am Tag scheint die Sonne und in der Nacht scheint der Mond. Das war meine erste Wahrnehmung der Zeit. Dass eine Woche sieben Tage hat, ignorierte ich als Unwahrheit, denn eine Woche hat sieben Tage und sieben Nächte. Und die Länge dieser Tage und Nächte, zusammen immer vierundzwanzig Stunden, aber zueinander immer unterschiedlich, ist abhängig von den Jahreszeiten. Dem Phänomen der Jahreszeiten ging ich damals noch nicht genauer nach, denn ein Jahr war für mich eine unfassbar unendliche Zeiteinheit: Dreihunderfünfundsechzig Tage und Nächte – eine Ewigkeit. So entdeckte ich zunächst den Monat, mit seiner überschaubaren Zeitspanne von vier Wochen plus zwei oder drei Tagen und Nächten. Aber wieso ist ein Monat vier Wochen plus zwei oder drei Tage und Nächte lang? Was passiert in einem Monat? Der Mond umrundet in einem Monat einmal die Erde, bekam ich als Antwort, deshalb heißt der Monat Monat, abgeleitet vom Mond. Ich folgerte: Im April, Juni, September und November braucht der Mond dreißig Tage und Nächte um die Erde, während er im Januar, März, Mai, Juli, August, Oktober und Dezember etwas rumtrödelt und einen Tag und eine Nacht länger braucht. Im Februar dafür gibt er Gas und braucht nur achtundzwanzig Tage und Nächte, also genau vier Wochen. Im Februar ist sich der Mond scheinbar der Zeiteinheit der Woche bewusst. Aber warum nur im Februar, warum ist es ihm sonst egal? Zu meinem Entsetzen stellte ich außerdem fest – ich glaube es war in der Grundschule, als ich das erste Schaltjahr bewusst erlebte -, dass der Mond alle vier Jahre im Februar neunundzwanzig Tage und Nächte braucht, um die Erde zu umrunden, also vier Wochen und einen Tag und eine Nacht. Der Mond hat ein sehr schlampiges Verhältnis zu den Wochen.

Als ein der Zeit Verfallener und in einem Alter, als mein erstes bewusst erlebtes Schaltjahr schon einige Zeit vorüber war, erfasste ich den Zeithorizont des Jahres. Zwölf Monate ergeben ein Jahr. Der Mond umrundet also in einem Jahr zwölfmal die Erde? Ja, so ungefähr. Aber wichtiger ist eigentlich, dass die Erde in einem Jahr einmal die Sonne umrundet. Das Ungefähr in der Antwort machte mich stutzig, und brachte mich dazu, die Frage zu stellen, die mich schon länger beschäftigte: Wieso braucht der Mond unterschiedlich lang, um die Erde zu umrunden? Wieso sind die Monate unterschiedlich lang? Der Mond braucht nicht unterschiedlich lang: Er braucht siebenundzwanzig Tage, sieben Stunden, dreiundvierzig Minuten und sechsundreißig Sekunden. Die Nächte fehlten mir in dieser Antwort, aber ich hielt mich damit nicht auf, denn aus einem anderen Grund brach eine Welt in mir zusammen: Der Mond hält sich nicht an meine liebgewonnenen Monate beziehungsweise die Monate halten sich nicht an den Mond. Ich versuchte mich abzulenken, indem ich mich den Wochen zuwandte mit ihren verlässlichen sieben Tagen und sieben Nächten, und erstellte folgende Rechnung (bei der ich die Tage und Nächte nun selbst zusammen vereinfachenderweise als Tage bezeichnete):

Januar      31
Februar     28
März        31
            90 Tage = 13 Wochen - 1 Tag

April       30
Mai         31
Juni        30
            91 Tage = 13 Wochen

Juli        31
August      31
September   30
            92 Tage = 13 Wochen + 1 Tag

Oktober     31
November    30
Dezember    31
            92 Tage = 13 Wochen + 1 Tag

Drei Monate eines Jahresquartals bestehen aus fast exakt dreizehn Wochen. Die dreizehnte Woche teilen sich die drei Monate geschwisterlich untereinander auf. Wobei mich das Fast in dieser Feststellung genauso stört wie das Ungefähr bei den Mondumrundungen der Erde. Ein Jahr besteht nämlich als Folge dieses Fasts nicht aus zweiundfünfzig Wochen, sondern aus zweiundfünfzig Wochen und einem Tag, in einem Schaltjahr sogar aus zweiundfünfzig Wochen und zwei Tagen. Auch die Arithmetik der Wochen befriedigte mich nicht.

Also zurück zu den Monaten: Wieso sind die Monate, mit Ausnahme des Februars, dreißig und einundreißig Tage (Ich verzichte im weiteren aus Vereinfachungsgründen gänzlich auf die Angabe der Nächte.) lang, wenn der Mond nur siebenundzwanzig Tage, sieben Stunden, dreiundvierzig Minuten und sechsunddreißig Sekunden braucht, um die Erde zu umrunden? Weil ein Jahr nicht aus zwölf Mondumrundungen um die Erde, sondern aus einer Erdumrundung um die Sonne besteht. Und die Erde braucht dreihunderfünfundsechzig Tage, fünf Stunden, achtundvierzig Minuten und sechsundvierzig Sekunden, um die Sonne zu umrunden. Der Monat, diese mir so liebgewonnene Zeiteinheit, steht also völlig willkürlich zwischen Tag und Jahr? Einem Jahr, das ich übrigens auch Sonnat nenne, abgeleitet von der Sonne. Unsere Zeitrechnung richtet sich nach der Sonne, nicht nach dem Mond. Und vielleicht sollte die Zeit überhaupt nicht lichtabhängig gesehen werden, sondern in Bezug auf einen fiktiven unendlich weit entfernten Fixstern ohne Eigenbewegung.

Das war zuviel für mich. Ich sah Tage und Nächte dahinschwinden und mich dabei verlieren in unendlicher Schlaflosigkeit im Licht des fiktiven Fixsterns, der die lichtunabhängige Zeit vorgibt. So wie die Dinge für mich sind, stehe ich auf dem Boden der Erde am Ende des Februars. Ich sehe die Sonne hinter den Bäumen untergehen, und zwar später und westlicher als noch vor ein paar Wochen. Der Frühling kommt, es wird lichter:

Bei diesem Anblick träume ich von lauen Sommernächten, in denen ich es mit der Realität wie Rilke halte, ganz fiktionsfrei:

Die Nacht liegt duftschwer auf dem Parke
und ihre Sterne schauen still
wie des Mondes weiße Barke
im Lindenwipfel landen will.

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