Die Vorteile der U-Bahn weiß ich als Großstadtbewohner durchaus zu schätzen. Mit rasender Geschwindigkeit und ohne Hindernisse im Untergrund von A nach B zu gelangen, wie ein Hochgeschwindigkeitsmaulwurf: Es gibt kein schnelleres innerstädtisches Verkehrsmittel. Dennoch bewege ich mich lieber auf der Oberfläche, mit dem Fahrrad, oder, wenn ich Zeit habe, zu Fuß. Ich bin halt doch ein Mensch und kein Maulwurf.
Vor zwei Wochen, als ich Zeit hatte und es mir zu kalt und zu weit war, um zu Fuß zu gehen, nahm ich die Tram. Im winterlichen Sonnenschein stieg ich am Stachus ein. Ich war glücklich, mich fortzubewegen, dabei etwas zu sehen und mich nicht auf den Verkehr konzentrieren zu müssen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Umgebung, die an mir vorbeizog. Auf die Häuserfassaden in der Sonne und im Schatten und auf die Leute davor auf den Gehsteigen. Auf die kahlen Äste der Laubbäume im flachen Licht und den blauen Himmel dahinter. Die Tram selbst war locker gefüllt, und bei meinem Blick durch den Waggon fiel mir eine Frau auf: Dunkelblond, wohl zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre alt, hübsch, anmutig. Aber das ist nebensächlich, denn was mich vor allem faszinierte, war ihr Blick. Ein stolzer Blick, der die tiefe Sehnsucht hinter diesem Blick nicht verbergen konnte. Eine zarte Traurigkeit schimmerte durch. Kurz schauten wir uns in die Augen, aber ihr Stolz ließ sie sofort wieder wegschauen. Nach zwei oder drei Fahrminuten ertappte ich sie dabei, wie sie noch einmal zu mir schaute. Sofort schaute sie wieder weg. Für die Gewissheit meiner Bewunderung hätte sie fast ihren Stolz geopfert. Ich fühlte mich stark, begehrt, ich spürte die Liebe. Zufrieden stieg ich an der Schellingstraße aus und ging pfeifend am Gehsteig entlang zu mir nachhause.
All das hätte ich wahrscheinlich schon vergessen und würde es nicht erzählen, wenn ich nicht vor einer Woche wieder mit der Tram gefahren wäre und genau diese Frau wieder getroffen hätte. Unsere Blicke trafen sich, ganz kurz, immer sofort unterbrochen von ihrem Stolz. Ich stieg nicht aus an der Schellingstraße. Am Elisabethmarkt stieg sie aus. Ich auch. Ich folgte ihr durch die Marktstände. Dann ging sie geradeaus weiter in die Agnesstraße. Ich folgte ihr nicht weiter, sondern bog nach links ab. Pfeifend ging ich den Gehsteig entlang und stellte mir vor, dass die Stolze aus der Tram eine Polin ist. Ihre dunkelblonden Haare und ihr blasses Gesicht mit seinen etwas kantigen Zügen machen sie zu einer slawischen Schönheit. Ihr Stolz ist auch slawisch, der Stolz, mit dem sie ihre Unsicherheit überspielen will, ihre große unerfüllte Sehnsucht. Ach, was schreibe ich da über slawische Schönheit! Sie ist eine Polin! Punkt. Weil es mir so gefällt! Weil ich mich durch diese Geschichte noch mehr in sie verliebe. Kurz überlegte ich, ob ich sie Elzbieta oder Agnieszka nenne, entschied mich für Agnieszka und stellte mir vor, wie Agnieszka die Agnesstraße entlanggeht und sich nach der Liebe sehnt.
All das würde ich nicht erzählen, hätte die Geschichte mit Agnieszka nicht gestern eine Fortsetzung gefunden: Ich war in der Sauna. Zwischen meinen Gängen nahm ich ein Fußbad und las in der Charakteranalyse von Reich. Als ich kurz aufblickte, sah ich am anderen Ende des Raumes Agnieszka. Ich sah sie von der Seite, sie trocknete sich ab. Ich fand sie wunderschön mit ihrem nackten Körper. Ich konnte meine Blicke nicht abwenden. Dann blickte auch sie zu mir, und ich bilde mir ein, ja, ich bin mir sicher: Sie hat mich sofort erkannt. Sie drehte sich in meine Richtung und streckte ihren Oberkörper, sodass ihre Brüste, ihr Bauch und ihre Beine voll zur Geltung kamen. Stolz präsentierte sie sich. Flammend spürte ich mein Begehren. Im nächsten Moment warf sie sich ein Handtuch um und mir einen stolzen Blick zu. Dann schaute sie in die Weite, vielleicht in ihre Sehnsucht, und ging an mir vorbei aus dem Raum, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
Ich blieb sitzen, legte aber die Charakteranalyse zur Seite, in der ich nicht mehr gelesen, sondern mich nur daran festgehalten hatte. Agnieszka! Nur du! Jetzt! Ich fühlte mich sehr lebendig, vom Leben geküsst. Flammendes Begehren. Was jetzt? Ich nahm eine Dusche. Unter der Dusche sah ich die chaotischen Verstrickungen der Unliebe hinter Agnieszkas Stolz. Enttäuschte Liebe, von Kindheit an. Agnieszka ist verliebt in die Sehnsucht nach der Liebe und hat Angst vor der Liebe. Agnieszka? Wie komme ich überhaupt darauf, sie Agnieszka zu nennen? Was für eine lächerliche Geschichte! Ich gehe aus der Dusche und trockne mich ab. Ich beschließe, nicht weiter über Agnieszka nachzudenken. Ich beschließe, die kurzen liebevollen offenen Momente zwischen uns so zu belassen, wie sie sind, ohne weitere Kommentierung: Agnieszka, die schöne Polin aus der Tram, die ich in der Sauna getroffen habe.
Als ich das Handtuch zur Seite lege, sehe ich sie kommen.