Ich war noch keine zwanzig, sagt Vorderbrandner. Ich hatte zuviel Hermann Hesse gelesen. Meine Laune schwankte zwischen süß und bitter. Süße Verliebtheit und bittere Enttäuschung. Es war Juni und der Sommer war da. Durch wogendes Gras und unter dichten Laubdächern ging ich zu meinem besten Freund: der Alten Linde. Ich setzte mich an ihren Stamm und träumte: von süßer Verliebtheit und bitterer Enttäuschung. Meine Träume entbehrten jeglicher Grundlage. Durch sie, so kann ich es jetzt sagen, sagt Vorderbrandner, flüchtete ich mich vor dem Leben.
Doch an diesem Tag an der Alten Linde war alles anders. Ich nahm mir fest vor, mein Leben ab jetzt zu leben, und der erste Schritt in diesem Leben würde sein, Johanna zu sagen, dass ich sie liebe. Während ich diese Vorsätze fasste, kam Johanna durchs Gras gelaufen. Ich wurde brutal ins Leben geworfen. Johanna lächelte, nicht stark, aber sie lächelte und ich lächelte zurück, nicht stark, aber ich lächelte. Der erste Schritt ins Leben war geglückt. Johanna setzte sich ins Gras, nicht nahe von mir, aber auch nicht weit weg, ich würde sagen, sie machte das sehr vernünftig, indem sie uns alle Möglichkeiten offenließ. Ich nahm mein Buch zur Hand – Das Glasperlenspiel von Hesse – ein völlig unpassendes Werk für mein damaliges Alter, aber alles andere von Hesse hatte ich bereits gelesen und ich betrachtete mich damals schon als reifen Hesse-Leser. Ich tat so als ob ich lese, war aber viel zu aufgeregt dazu. Ich schielte zu Johanna rüber, und dann blätterte ich eine Seite weiter, weil ich meinte, sie würde sicher genau beobachten, ob ich wirklich lese. Es war anstrengend, und nach einer Weile wünschte ich, Johanna wäre nicht da und ich allein mit der Alten Linde. Aber sie war da, und das erinnerte mich an meinen Vorsatz, das Leben zu leben, indem ich Johanna sage, dass ich sie liebe.
Ich ging zu Johanna und sagte: „Ich gehe zum Bach, um mich zu erfrischen.“
„Oh ja“, sagte Johanna, „das ist eine gute Idee: Es ist sehr heiß!“ und blieb sitzen.
Ich ging weiter zum Bach, um mich zu erfrischen, und ich schwankte, ob ich nur Gesicht, Beine und Arme erfrischen sollte, oder ob ich mich ganz ausziehen sollte, um meinen ganzen Körper zu erfrischen. Schließlich siegte mein Mut über meine Scham und ich beschloss, dass es zu meinem neuen Leben gehört, mich am ganzen Körper zu erfrischen. Bange und erwartungsvoll sah ich zu Johanna hinüber, als ich mich auszog. Sie hatte sich auf den Rücken gelegt. Nach der Erfrischung ging ich zur Alten Linde zurück, und als ich bei Johanna vorbeikam, sagte ich: „War sehr erfrischend!“ und sie lächelte, nicht stark, aber sie lächelte.
Ich setzte mich wieder an die Alte Linde und tat so, als ob ich lesen würde und sah im Augenwinkel, wie Johanna aufstand und zum Bach ging. Wohl, um sich zu erfrischen. Ich sah, wie sie ihr Sommerkleid auszog, um ihren ganzen Körper zu erfrischen, ehe ich mich wieder in Das Glasperlenspiel vertiefte. Sie kam zurück und rief mir zu: „Das war sehr erfrischend!“ Dann saßen wir beide da, und ich träumte nicht, sondern fand es schön, mit Johanna bei der Alten Linde in die tiefe Sonne zu blicken. Ein sanfter Abendwind wehte übers Gras und durch die Blätter der Linde. Da stand Johanna auf, und ich stand auch auf und sagte: „Es ist so schön hier, Johanna, und wenn du hier bist, ist es noch viel schöner!“
„Oh, danke!“ sagte Johanna: „Ich muss jetzt leider gehen!“
Wie ein Donnerschlag traf mich ihr Ich muss jetzt leider gehen! und riss mich aus allen Träumen. Ich sagte den durchaus mutigen Satz „Darf ich dich begleiten?“, aber ich vermute, ich hatte einen zu bettelnden Unterton, denn sie sagte: „Was? Nein. Ich gehe jetzt.“
Ratlos stand ich an der Alten Linde, dem Leben wieder sehr fern. Ich sammelte mich jedoch völlig unerwartet und rasch und sogar Humor gesellte sich zu mir und ich sagte: „Na gut, dann geh!“
„Was?“
„Geh! Geh voraus! Ich warte. Denn wenn wir beide gehen, begleite ich dich ja!“
Johanna ging über die Wiese. Ich sah ihr nach. Mir wurde schwindelig. Ich suchte bei der Alten Linde Halt und lehnte mich an ihren Stamm. Am Ende der Wiese blieb Johanna stehen. Sie drehte sich um. Ich schaute sie an und ließ meinen Blick nicht von ihr. Da sagte mein bester Freund, die Alte Linde: Komm, geh auch du! und ich setzte einen Schritt nach dem anderen ins Gras, sagt Vorderbrandner.
Abspann (Andantino)