eine Straßengeschichte – zweiter Teil: Adelheid
Die Adelheidstraße in München, benannt nach Henriette Adelheid von Savoyen, Kurfürstin von Bayern, führt vom Josephsplatz etwas über einen halben Kilometer nach Norden. Beim Überqueren der Elisabethstraße schlägt sie einen kleinen Haken nach links und mündet in einem leichten Bogen nach rechts in die Bauerstraße. Adelheidstraße von oben
August blickte nachdenklich zu Boden. Da fragte ihn eine Frauenstimme von der Seite, ob er Feuer hat. Er sah weiße Turnschuhe. Sein Blick ging nach oben, und er sah Beine, die in einer Jeans steckten. Weiter oben sah er eine aufgeknöpfte Jacke über einem weißen T-Shirt, das den Bauch und die Brüste einer jungen Frau bedeckte. Sein Blick schweifte weiter über den blassen, glatten Hals in das Gesicht, in das er sich sofort verliebte. Feuer? fragte die Stimme nocheinmal. August nickte und gab Feuer. Wo kommst du her? fragte die Stimme und setzte sich zu ihm. August machte eine Kopfbewegung nach links.
Augustenstraße?
Ja.
Aha. Und wie heißt du?
August.
Red keinen Scheiß! August aus der Augustenstraße?
August sah in das Gesicht, das nun auf Augenhöhe mit ihm war und in das er sich mehr und mehr verliebte.
Ich heiß Adelheid und komm aus der Adelheidstraße, sagte der schöne Mund in diesem schönen Gesicht. Bescheuerter Name, aber leicht zu merken. Ich heiß wie die Straße, sagte Adelheid, und machte eine Kopfbewegung nach rechts.
August zündete sich eine Zigarette an, schaute nach rechts Richtung Adelheidstraße, aber eigentlich schaute er nach rechts, um Adelheids Gesicht zu sehen. Ich verliebe mich gerade in eine Großkopferte, dachte er.
Und was machst du so, Adelheid? fragte er, um sich abzulenken und die schöne Stimme aus dem schönen Mund wieder sprechen zu hören.
Nenn mich Heidi. Bitte! Genauso bescheuert wie Adelheid, aber irgendwie doch besser. – Was ich mache? Jetzt geh ich nachhause, weil meine kleine Schwester nachhause kommt und meine Eltern nicht da sind.
Wo ist zuhause?
Am Ende der Adelheidstraße.
Am Ende der Adelheidstraße? August blickte ungläubig.
Begleit mich doch!
August lief es heiß und kalt gleichzeitig über den Rücken. Adelheid begleiten? Natürlich! Aber Adelheid begleiten heißt, dahin zu gehen, wo die normale Welt nicht mehr existiert. Und noch dazu bis ans Ende der Adelheidstraße, also tief in die abnormale Welt der Großkopferten. War es nicht schon dumm genug, sich bis zum Josephsplatz vorgewagt zu haben? Nein, er konnte nicht weitergehen! Mit einer, die den Adel im Namen trägt. Die ist sicher eine Thusnelda wie diese Auguste, nach der die Augustenstraße benannt ist. Aber dann kam der rettende Gedanke: Sie nennt sich Heidi, nicht Adelheid. Vielleicht ist sie als Heidi doch eine wie ich. Er fasste all seinen Mut zusammen und ging mit ihr in die Adelheidstraße.
Die Welt war wirklich eine andere. Kleine Vorgärten vor den zurückversetzten Häusern, und im Vergleich zur Augustenstraße war jedes der Häuser ein kleiner Palast. August blieb stehen und staunte. Adelheid ging ein paar Schritte voraus. Er sah ihr nach, und staunte wieder. Mit ein bißchen Entfernung fand er sie noch schöner. Ihr Lächeln, als sie sich umdrehte. Schließlich kamen sie zu einem Haus, das wirklich ein kleiner Palast ist. Es liegt versteckt und doch majestätisch am Ende der Adelheidstraße.
Hier wohn ich, sagte Adelheid. Ich hab dir nicht die Wahrheit gesagt. Ich wohn nämlich gar nicht in der Adelheidstraße, sondern in der Bauerstraße 38a, aber schau, sagte sie und drehte sich um: Von hier sehe ich die ganze Adelheidstraße entlang bis zum Turm von St. Joseph.
St. Joseph – das verbindende Element zweier Welten? August sah Adelheid an und Adelheid sah August an. August spürte ein heftiges Verlangen, das schier unerträglich wurde. Und was machen wir jetzt? fragte er, um die Stille zu durchbrechen und sein Verlangen zu besänftigen.
Es ist schade, sagte Adelheid, dass meine Schwester gleich nachhause kommt, denn sonst würde ich dich fragen, ob du mit reinkommst. Ich würde dir zeigen, was unter meinen Klamotten steckt und würde gerne sehen, was unter deinen Klamotten steckt. Ich weiß, ein Mädchen soll nicht so reden, aber ich habe gerade Lust darauf, und warum soll ich nicht sagen, worauf ich gerade Lust habe. Ja, sagte August, und schaute Adelheid mit offenem Mund an und stellte sich vor, die nackte Adelheid zu erforschen und von ihr erforscht zu werden. Adelheid drückte August einen Kuss auf die Lippen. Dann lief sie zur Haustür. Beim Hineingehen drehte sie sich um und rief: Du kommst mich doch wieder besuchen, oder?
Als sie hinter der Haustür verschwunden war, zündete sich August eine Zigarette an. Noch nie hatte er ein Mädchen so zärtlich über Sex reden gehört wie Adelheid eben. Er muss sie wiedersehen! Er muss sie wiedersehen! Auch wenn sie eine Großkopferte ist. Unsicher blieb er stehen, bis er schließlich langsam und mit zittrigen Beinen Richtung Josephsplatz ging. Vorbei an den Palästen mit den kleinen Vorgärten. Eine unwirkliche Welt. Eine Welt außerhalb der Welt. Adelheid, die Außerirdische. Heidi, die Irdische? Am Josephsplatz setzte er sich wieder auf die Stufen vor der Kirche. Noch einmal der Blick zurück in die Adelheidstraße, noch einmal der Blick zurück zu Adelheid. Was war das eben? War das ein Traum? Er bekam plötzlich Angst. Angst, verloren zu sein, in dieser wunderbaren Welt der Großkopferten. Verloren in den Armen Adelheids, der Außerirdischen. Heidi, die Irdische, drang nicht durch. Nein, sie blieb Adelheid in seinem Kopf. Er blickte nach links zur Augustenstraße. Da gehört er hin. Da gibt es Arbeit. Und vielleicht gehört es zum Leben, dass man immer in Gefahr ist, derschossen zu werden. Er blieb noch lange auf den Stufen vor der Kirche sitzen. Er schaute den Eltern zu, die ihren Kindern beim Spielen zusahen. Eine Träne lief über seine Wange. Er wollte zu Adelheid. Heidi! sagte er heimlich und leise zu sich und doch zur ganzen Welt. Schließlich stand er auf und ging wie hypnotisiert die Augustenstraße entlang. Geh immer zum Bahnhof, Bub, denn da gibt’s Arbeit. Alles andere kannst du vergessen! Alles andere musst du vergessen!