eine Straßengeschichte – erster Teil: August
Die Augustenstraße in München, benannt nach Prinzessin Auguste Amalia Ludovika von Bayern, zweigt nahe des Hauptbahnhofs von der Dachauer Straße ab und führt in nordnordöstlicher Richtung auf knapp eineinhalb Kilometern Länge zum Josephsplatz, an dem sie endet. Augustenstraße von oben
August lebt in der Nähe des Hauptbahnhofs, am Beginn der Augustenstraße, schon immer. Beim Bahnhof gibt es Arbeit, sagt seine Mutter. Was für Arbeit? fragte August, als er noch ein kleines Kind war. Na, Arbeit halt! sagte seine Mutter, damit dein Vater Geld verdient. Sein Vater war oft arbeiten, und manchmal kamen die Leute, mit denen Vater arbeitete, vorbei, und fragten, wo Vater ist, und Mutter sagte diesen Leuten, dass sie nicht weiß, wo er ist. Aber August wusste, dass Mutter wusste, wo Vater ist. Wenn die Leute wieder weg waren, sagte Mutter zu August: Dass du denen fei ja nicht sagst, wo der Vater ist! Hast mich verstanden! Oft kam Vater tagelang nicht nachhause, und August fragte seine Mutter, warum Vater tagelang nicht nachhause kommt, und Mutter sagte nur: O mei Bub, und August fragte, ob er sich denn vor den Leuten versteckt, die immer vorbeikommen und fragen, wo er ist.
August fragte seine Mutter auch, warum denn die Augustenstraße, in der sie wohnten, so heißt wie er? A geh, sagte die Mutter, die heißt doch nicht so wie du, die ist nach irgendsoeiner adligen Thusnelda namens Auguste benannt, die keine Ahnung vom Leben hatte und trotzdem glaubte, einen besseren Dreck zu scheißen als Leute wie wir. Mutter, fragte August weiter, was ist denn das für eine gelbe Kirche, die man am Ende der Augustenstraße sieht? Das ist St. Joseph, und hinter St. Joseph hört die normale Welt endgültig auf, da wohnen die Großkopferten, die glauben, dass sie was Besseres sind als wir. Da brauchst nie hingehen, Bub! Geh immer in die andere Richtung, zum Bahnhof, denn da gibt’s Arbeit.
Eines Tages weinte und fluchte Augusts Mutter, und August fragte, was los ist, und Mutter sagte, dass der Vater nicht mehr nachhause kommt. Wieso denn? fragte August. Muss er so viel arbeiten? Nein. Derschossen haben’s ihn, diesen Deppen, weil er nicht aufgepasst hat. Derschossen, bei der Arbeit? Ja, derschossen bei der Arbeit. Zuviel beschissen hat er die anderen, dein Vater. Man darf schon ein bisserl bescheissen, wahrscheinlich muss man sogar ein bisserl bescheissen, um was abzukriegen vom Kuchen, aber man darf’s nicht übertreiben, weil wenn die anderen merken, dass sie beschissen werden, dann werden sie zornig und derschießen einen. Dann weinte und fluchte sie wieder. August, sagte sie, jetzt musst du Geld verdienen. Geh gleich zum Bahnhof und schau dass du ein Geld verdienst. Und August, obwohl noch mehr Junge als junger Mann, ging zum Bahnhof und schaute, dass er ein Geld verdient. Er machte alles Mögliche, um ein Geld zu verdienen, und traf dabei Leute, von denen er sich nach einiger Zeit sicher war, dass sie es waren, die den Vater derschossen haben. Aber es half ja nichts: Er musste Geld verdienen, und wenn es sein musste, dabei auch diese Leute bescheissen, die seinen Vater derschossen haben. Das Wichtigste war, Geld nachhause zu bringen, für sich und die Mutter.
Einmal saß August zuhause und zählte das Geld und hatte plötzlich das Gefühl, dass er die Leute, denen er das Geld abgenommen hatte, ein bißchen zuviel beschissen hatte. Er bekam Angst. Würden sie jetzt kommen und ihn derschießen, wie den Vater? In seiner Angst beschloss er, die Augustenstraße in die andere Richtung entlangzulaufen, Richtung St. Joseph, denn dort würden sie ihn bestimmt nicht suchen. Auch wenn seine Mutter gesagt hatte, dass er da nicht hingehen braucht.
Viele Läden hier, dachte sich August, als er die Augustenstraße entlangging, und viel zu essen kann man kaufen. Verhungern tut man hier nicht, wenn man Geld hat. Aber es gibt immer weniger Leute, für die ich arbeiten kann, je weiter ich gehe. Hier kriegt man kein Geld, hier hat man es. Nach etwa einer Viertelstunde erreichte er St. Joseph und staunte über die große Kirche. Er setzte sich auf die Stufen vor dem Eingang und schaute auf den Platz vor sich. Eltern saßen und Kinder spielten. Sind das die Großkopferten, von denen Mutter spricht? Es war ruhig und friedlich. Ungewohnt. Eine andere Welt. Hier hatte er jedenfalls keine Angst, derschossen zu werden.