Er saß mir gegenüber und sprach von seiner Übermutter, und davon, dass er ihretwegen kein normales Verhältnis zu Frauen aufbauen könne. Ich konnte mit dem, was er sagte, nichts anfangen. Ich bin doch eine Frau, und er redete ganz normal mit mir. Sicher, ich hatte ihm bereits signalisiert, dass er mir nicht zu nahe kommen soll: Ich hatte meine Gründe. Aber das wird doch nicht bei jeder Frau so sein, die er trifft!
Er machte mich neugierig. Irgendetwas zog mich zu ihm hin. Er brachte mich zum Nachdenken: Übermutter? Ich konnte mit dem Begriff nichts anfangen. Meine Mutter war keine Übermutter. Sie war eine hilfsbedürftige Frau, die sich meinem Vater ausgeliefert hatte. Mein Vater war der Chef im Ring. Er hatte als Kind den Bombenhagel über Dresden überlebt. Allein deswegen war er schon eine Art Übermensch. Durch vielerlei Irrungen und Wirrungen kam er nach dem Krieg nach München. Schlug sich durch. Wurde Arzt. Die Autorität im weißen Kittel. Er ehelichte meine Mutter, was soviel bedeutete, dass er sie in Besitz nahm. Meine Mutter gebar ihm drei Mädchen: meine beiden älteren Schwestern und mich. Mein Vater war sehr stolz auf meine beiden älteren Schwestern. Er betrachtete sie wie zwei heranwachsende weibliche Trophäen. Ich war immer außen vor, zu groß war der Altersunterschied: Juliane ist acht, Adriane sechs Jahre älter als ich.
Im Sommer flogen meine Eltern mit uns dreien immer ans Meer, wo wir nackt badeten. Ich weiß noch genau den Moment in dem Sommer, als Juliane das letzte Mal mit uns kam. Sie war siebzehn und Adriane fünfzehn: Ich spielte gerade im Sand, als ich aufblickte. Mein Vater stand mit meinen beiden Schwestern nackt da. Er legte triumphierend die Hände um ihre Schultern. Anschließend fasste er Juliane an die Brust und sagte: Ja, das fühlt sich gut an! Wirst eine ordentliche Frau! Zu Adriane, deren Brüste er auch berührte, sagte er: Ja, auch bei dir ist das schon ganz ordentlich. Und außerdem hast du ja noch zwei Jahre mehr Zeit als deine Schwester. Meine Schwestern grinsten stolz. Wie eine verschworene Gemeinschaft standen sie da mit ihren nackten Körpern, die drei. Ich saß im Sand und verstand nichts. Ich merkte nur, dass bei mir noch nichts auf der Brust war, das mein Vater gerne angefasst hätte, und fühlte mich schlecht. Von diesem Zeitpunkt an konnte ich es kaum erwarten, dass mir Brüste wachsen.
Vier Jahre später: Ich war dreizehn und nur mit meinen Eltern – ohne meine beiden Schwestern – im Strandurlaub. Meine Brüste hatten sich bereits ansehnlich entwickelt. Stolz ging ich im Sand herum und hoffte, dass mein Vater nun endlich auch meine Brüste berührt. Mir wurde ganz schwindelig bei dem Gedanken, ich konnte es kaum erwarten. Dann, eines Abends, lag ich im Bett und konnte nicht schlafen. Ich wünschte mir, dass mein Vater kommt und mich berührt. Mir war heiß. Ich stand auf und wollte auf die Terrasse unseres Bungalows gehen, wo meine Eltern noch saßen. Als ich den Flur betrat, hörte ich sie reden. Leise schlich ich zur Ecke, wo sie mich nicht sehen konnten, und belauschte ihr Gespräch.
Wolfgang, sagte meine Mutter, ich habe nur eine Bitte an dich: Lass unsere Kleine in Ruh! Ich merke, wie fixiert du schon wieder auf sie bist. Aber ich werde das nicht dulden! Sie soll ohne dein Gegrapsche eine Frau werden!
Ach was, sagte mein Vater: Als ob das schaden würde! Sind Juliane und Adriane wegen meinem Gegrapsche, wie du es nennst, schlechte Menschen? Im Gegenteil: Sie sind selbstbewusste junge Frauen!
Du weißt, wie mir die Kleine am Herzen liegt! Ich habe sie mir so gewünscht! Bei den beiden Großen habe ich dir freie Hand gelassen. Aber sie, sie gehört mir! Lass die Finger von ihr! Ich dulde alle deine Frauengeschichten. Aber wenn du auch nur einmal Liliane begrapschst, dann verlasse ich dich mit ihr!
Ich lief davon, sprang ins Bett, zog mir die Decke über den Kopf und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich heulte und heulte, ohne Ende. Eine Welt brach zusammen. Mein Vater würde mich nicht berühren. Mein Vater berührte meine älteren Schwestern. Mein Vater berührte andere Frauen. Nur mich und meine Mutter nicht. Ich war verzweifelt. Ich hatte das Gefühl, meinen Vater verloren zu haben. An meine beiden älteren Schwestern. An alle Frauen dieser Welt.
Meine Mutter hatte mich heulen gehört. Sie kam zu mir ins Zimmer und schob die Decke von meinem Kopf: Was ist denn, meine Kleine? Hast du schlecht geträumt? Sie begann mich zu streicheln und zu küssen, aber ich wollte das nicht. Ich wollte Zärtlichkeiten von meinem Vater, aber nicht von meiner Mutter. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Wie sonst hätte ich dieser Situation entkommen sollen? Was hätte ich denn sagen sollen? Meine Mutter ließ nicht los von mir. Nachdem ich ihr mehrmals gesagt hatte, dass ich schlafen will, ging sie schließlich. Geschlafen habe ich die ganze Nacht nicht. Ich wäre am liebsten gestorben.
Am nächsten Tag, am Strand, hatte ich das Gefühl, den hässlichsten Körper aller Frauen zu haben. Ich vergrub ihn mitsamt meinem Kopf im Liegestuhl…