eine Bildergeschichte
Birken wachsen gern in Gruppen. Meist unter sich, aber auch gemeinsam mit anderen Bäumen.
Ich weiß nicht, woher ich das weiß. Vielleicht glaube ich es auch nur. Jedenfalls ist es für mich eine Wahrheit.
Umso mehr erstaunt es mich, als ich die einsame Birke entdecke: Ich gehe, wie so oft, den Bach entlang, unter den Autobrücken hindurch, und da nehme ich sie plötzlich wahr, wie sie zwischen den Brücken steht: die einsame Birke. Als hätte sie gerade jemand hingepflanzt. Jedenfalls kommt sie neu in meine Welt und erschüttert meine Wahrheit über Birken als Gruppengewächse.
Mit grenzenlosem Erstaunen schaue ich zur Birke hoch. Ist das wirklich wahr, diese birkige Einsamkeit? Ich brauche Abstand, um das zu prüfen. Vielleicht täuschen mich ja meine Augen, hier unter den Brücken.
Ich gehe auf die andere Seite des Bachs. Ich betrachte die Birke von der gegenüberliegenden Seite, oberhalb der Brücken, wo ihre Einsamkeit nicht so einsam wirkt und die Brücken nicht so brückig.
Doch dieser Blick stellt mich nicht zufrieden. Ich weiß, dass er nicht der Wahrheit entspricht, hinter der ich her bin. Ich will der Birke wieder näher kommen. Autos rauschen über die Brücken an ihr vorbei. Ich warte einen verkehrsfreien Moment ab, überquere die Fahrbahn, um mich der Welt der einsamen Birke wieder zu nähern.
Mein neuer Anblick ist nur eine Momentaufnahme, denn es treibt mich weiter. Ich krieche an den Brücken hinunter ans Ufer des Bachs. Dort schleiche ich herum und weiß nicht recht, wie mir geschieht.
Dunkel ist es unter den Brücken, obwohl die Sonne scheint. Ich bekomme Angst und kauere mich auf den Betonsockel am Ufer. Ich spüre eine tiefe Verbundenheit zur einsamen Birke gegenüber. Ich bezweifle nicht mehr ihre Existenz. Ich erkenne mich selbst in ihr. Ich spüre meine Angst vor dem Isoliertsein, vor dem Getrenntsein, vor dem Nichtverbundensein.
Doch statt in eine Angststarre zu verfallen, gehe ich zum mutigen Angriff über. Ich springe in den Bach und schwimme zur Birke hinüber. Ich hätte oben über eine der Brücken zu ihr gehen können, aber das hätte viel zu lang gedauert und den rollenden Autoverkehr auf den Brücken nur unnötig in unsere Beziehung involviert. Außerdem hätte das meiner Gefühlslage nicht entsprochen. Denn ich kann mich unmöglich von der Birke wieder entfernen, keinen Zentimeter, so hingezogen fühle ich mich zu ihr. Ist es Liebe?
Durchnässt steige ich am anderen Ufer aus dem Bach, gehe zur Birke und umarme ihren Stamm. Bang frage ich sie: Birke, wie hältst du das aus, immer so alleine zwischen den Brücken?
Ich bin nicht alleine, sagt die Birke: Der Bach fließt an mir vorbei. Als ich klein war, war es sehr windstill und dunkel unter den Brücken, und er mein einziger Begleiter. Er sagte zu mir: Schau nach oben – der Himmel ist über dir. Durch ihn ist alles mit allem verbunden. Ich wuchs dem Himmel entgegen, über die Brücken empor. Seit ich größer bin, spüre ich den Wind. Manchmal kommt er von meinen Geschwistern, die etwas weiter nördlich stehen, und sie grüßen mich. Manchmal geht er von mir zu ihnen, und ich grüße zurück. Und manchmal bringt er mir etwas ganz Neues, der Wind. So ist jeder Tag ein Erlebnis, hier bei den Brücken.