Ich irre planlos durch meine Welt. Gefühle und Gedanken schwirren kreuz und quer herum und gerade als ich glaube, vollends im Chaos zu versinken, erscheinen als gegensätzliche Pole meiner Welt die Moral und die Freiheit. Sie geben meiner Welt Struktur, die mich ordnet: Da ist die Moral und dort ist die Freiheit. Nichts dazwischen. Nein halt: Ich bin dazwischen. Ich werde zwischen den beiden zerrissen, jedenfalls fühlt es sich so an. Die Moral zerrt an mir und zur Freiheit zieht es mich hin. Die Moral lässt mich nicht los, und so scheint es eine naheliegende Idee, die Moral genauer anzusehen: Die Moral trägt die Bürde von Jahrhunderten, in denen sie genug Zeit hatte, die Menschheit an sich zu ketten. Wäre es nicht sinnvoll, die Moral einfach loszulassen, anstatt sich lange mit ihr zu beschäftigen, und sich der Freiheit zuzuwenden? Oder ist das zu einfach gedacht?
Mir wird das zu kompliziert, zu schwer, und so beschließe ich, mich der Leichtigkeit des Lebens zuzuwenden. Ich schlage die Sportseiten der Zeitung auf. Dort lese ich, dass in New York die offenen US-Meisterschaften im Tennis stattfinden. Es herrscht große Hitze in New York. Deswegen wechseln die Spieler mehrmals während eines Spiels ihr Shirt. Die Männer machen das auf dem Platz und zeigen dem Publikum ihre nackten Oberkörper. Die Frauen gehen dazu in die Katakomben des Tennisstadions. Schade eigentlich, denke ich, denn trainierte Frauenoberkörper wären doch mindestens genauso schön anzusehen wie trainierte Männeroberkörper.
Das dachte sich wohl auch ein Kameramann, denn er folgte einer Spielerin in die Katakomben, filmte sie beim Umziehen und sendete die Bilder live dem Fernsehpublikum. Wozu ging sie dann überhaupt in die Katakomben? Als die Spielerin auf den Platz zurückgekehrt war, bemerkte sie, dass sie ihr Shirt verkehrt herum angezogen hatte. Ohne noch einmal in die Katakomben zu verschwinden (wo sie wahrscheinlich ohnehin wieder gefilmt worden wäre), zog sie das Shirt kurzerhand auf dem Platz aus und richtig herum wieder an. „Hast du gar keine Skrupel?“ rief ihr der Schiedsrichter daraufhin zu und rügte sie.
Skrupel! Das ist das Wort! Das ist das verbindende Element zwischen Moral und Freiheit! Ein Skrupel ist eine auf moralischen Bedenken beruhende Hemmung, etwas Bestimmtes zu tun. Ein Skrupel beraubt einen der persönlichen Handlungsfreiheit. Ein Skrupel sorgt dafür, dass einen die Moral nicht in die Freiheit entlässt. Das bin ich also: Ein Mensch voller Skrupel. Ich spüre schon wieder die Schwere des Themas und kehre sofort wieder zurück zur Leichtigkeit der Sportberichterstattung.
Die Spielerin blickte den Schiedsrichter nach der Rüge zunächst verduzt an, hatte sie doch beim Aus- und Anziehen des Shirts ihre Brüste moralisch einwandfrei mit einem Sport-BH bedeckt gehabt. Dann aber zerriss sie die Ketten der Moral: Sie zog ihr Shirt wieder aus, anschließend auch ihren Sport-BH und rief dem Schiedsrichter zu: „Nein, ich habe keine Skrupel, denn ich bin frei! Und mit deiner Moral will ich nichts zu tun haben!“ Ein Kampf für die Freiheit, den sie da ausrief. Denn warum darf das Publikum nackte Oberkörper von männlichen Spielern betrachten, aber keine nackten Oberkörper von weiblichen Spielern?
Mit dem Zeigen und Betrachten von nackten Körpern scheint die Menschheit ein großes moralisches Problem zu haben. Wie ist es sonst möglich, dass ein Kameramann die Spielerin beim Umziehen in den Katakomben heimlich filmt und die Bilder live dem Fernsehpublikum sendet, die Spielerin draußen auf dem Platz aber gerügt wird, wenn sie ihr Shirt nochmal aus- und anzieht? Einerseits das große Verlangen, andererseits die große Scham.
Die Sportberichterstattung bringt keine Leichtigkeit in mein Leben, im Gegenteil. Sie führt mich mitten hinein in die Schwere der Problematik von Moral und Freiheit. Wieso hängt die Menschheit so an der Moral? Ist die Freiheit zu anstrengend, weil sie Verantwortung für das eigene Handeln einfordert? Ist es leichter, sich der Moral zu unterwerfen anstatt Verantwortung für sich selbst zu übernehmen? Und viele Skrupel zu entwickeln, um eigenverantwortliches Tun zu verhindern?
Nein, nein, nein! Ich will mich der Moral nicht mehr unterwerfen und habe beschlossen, künftig skrupellos durch die Welt zu laufen. Und bei allen moralischen Bedenken, die da noch kommen mögen: Es fühlt sich frei an!