Auf einer Wanderung gehe ich an diesem Marterl vorbei:
Beeindruckt von der Schlichtheit der Botschaft bleibe ich stehen. Hier ging Schorsch in die Büsche und kam nicht mehr raus.
Andächtig im Moment versunken erinnere ich mich an Schorsch Dorsch (von dem ich bereits kürzlich berichtet hatte), der eigentlich Georges hieß weil seine Ururgroßmutter Französin war und den seine Mutter bevorzugt mit einem Fisch namens Franzosendorsch bekochte. Vor allem erinnere ich mich daran, dass auch Schorsch Dorsch nicht mehr lebt.
Zu Schorschs kurzem Leben von nicht einmal siebenundzwanzig Jahren ist Folgendes zu sagen: Auf eine schwierige Kindheit folgte eine schwierige Zeit des Erwachsenwerdens. Kontakt mit Frauen fand nicht statt. Ich weiß noch, als wir Doktor spielten und Jungs und Mädchen sich intensiv begutachteten. Schorsch jedoch schmollte angewidert in der Ecke und ließ die ihm Zugedachte einfach sitzen. Nie sah man Schorsch mit einer Frau, bis man ihn schließlich fragte: Schorsch, bist du schwul? Schorsch sagte: Nein, ich warte nur auf meine Traumfrau.
Eines Tages tauchte tatsächlich eine Frau auf namens Otilie. Sie stand da in schrecklich biederen Klamotten und wirkte wie eine, die auch noch nie bei Doktorspielen mitgemacht hat. Sehr unsicher war ihr Auftreten – nein – mehr noch: Man sah ihrem Körper an, dass er voller Angst steckte. Frau Dorsch jedoch betonte Otilies blaue Spuren in ihrem Blut. Sie war so entzückt von der Vorstellung, dass ihr Schorsch nun eine gutbürgerliche Existenz als Ehegatte starten könnte, dass sie Schorsch und Otilie eine Verlobungsreise nach Paris spendierte.
Ich stelle mir die beiden vor, wie sie durch Paris flanieren, mit ihren dicken Brillen auf den Nasen und den leicht schielenden Augen, was ein Sich-in-die-Augen-schauen schwierig macht. Auch alles andere zwischen den beiden stelle ich mir schwierig vor.
An einem Abend jedenfalls gingen sie zur Pont des Arts, um dort ein Schloss anzubringen und ihre Liebe zu besiegeln. Schorsch hatte das Bügelschloss seines Fahrrads dabei, weil er kein anderes gefunden und so dieses in den Koffer gesteckt hatte. Auf der Brücke war alles vollgesteckt mit Schlössern. Lange suchten die beiden nach einer Lücke an einer Strebe, bis sie endlich fündig wurden. Schorsch öffnete das Schloss und gab es um die Strebe. Als es zuschnappte, wollte er Otilie den Schlüssel geben, damit sie ihn in die Seine wirft. Doch genau in diesem Moment krachte die Brücke in sich zusammen. Das Fahrradschloss von Schorsch war genau das eine Schloss zuviel für die Statik der Brücke. Die zusammenkrachende Brücke riss Schorsch und Otilie in den Tod.
Frau Dorsch war tief schockiert, dass ihr Schorsch ausgerechnet in ihrem geliebten Frankreich den Tod fand und hat sich bis heute nicht von diesem Schock erholt. Herr Dorsch meinte: Warum musste er auch sein Fahrradschloss auf die Brücke hängen? Ein normales Türschloss hätte es doch auch getan!
Ich stehe noch immer beim Marterl am Wegrand, wo Schorsch von uns ging. Ich sollte jetzt endlich mal nach Paris fahren und zur neuerbauten Pont des Arts gehen. Dort werde ich dann andächtig stehen und mir denken: Hier gingst du von uns Schorsch.
Vorwarnungen zur Katastrophe an der Pont des Arts