Lieber Georg,
seit über zweihundert Episoden bist du nunmehr ein treuer Begleiter meiner Schreibversuche. Du hast meine Texte auf den Kopf gestellt und wieder zurück auf die Füße, hast sie geschüttelt und gerüttelt und von allen Seiten betrachtet wie eine geliebte Frau. Heute möchte ich den Spieß umdrehen und mich mit dir befassen, und zwar mit der konkreten Frage, ob du mehr der Realität oder mehr der Fiktion zugeneigt bist.
Ausgangspunkt dieser Frage war eine Zugfahrt nach Ismaning, die mich an Daglfing vorbeiführte. Als der Zug in Daglfing hielt, fiel mir mein Text von letzter Woche ein, in dem ein gewisser Ger aus Dingolfing der Mann einer Trude aus Ring – entschuldige – einer Trude aus Trudering ist. In Daglfing wurde es mir klar wie eine Nacht voller Sterne: Ger ist nicht aus Dingolfing, sondern aus Daglfing, einem Nachbardorf Truderings. Wie sonst hätte er Trude kennenlernen können! Dingolfing ist doch viel zu weit entfernt von Trudering! Da habe ich ziemlichen Unsinn geschrieben letzte Woche, den ich hiermit korrigiere:
Gertrude aus Trudering
hatte einen Ring am Fing,
und Ger, ihr Mann aus Daglfing,
nannte ihn den Trudering,
den Ring an Trudes Fing.
Ich habe den Text also nun aus der Fiktion in die Realität geholt. Um mich endgültig von der Realität dieser Tatsachen zu überzeugen, fragte ich den Mann, der neben mir im Zug saß: „Kennen Sie Ger und Trude?“ und er sagte: „Nein, ich komm aus Buxtehude“, was ein gewisser Rückschlag in meiner Realitätsfindung war. Außerdem fiel mir ein, dass im Text von letzter Woche nicht nur Ger und Trude, sondern auch drei Brüder mit dem gleichen Vornamen Georg und den drei unterschiedlichen Nachnamen Stürz, Türze und Ürzer vorkommen. Da wurde mir klar, dass du auch die Realität dieser drei Brüder anzweifeln würdest. Eines ist klar: Diese drei Brüder sorgen für mächtig Unordnung in einer Gesellschaft, in der die überwiegende Mehrheit der Brüder unterschiedliche Vornamen und gleiche Nachnamen trägt. Wo kämen wir denn da hin, wenn alle Brüder gleiche Vornamen und unterschiedliche Nachnamen trügen! Da kennte man sich ja überhaupt nicht mehr aus in dieser Welt!
Zusätzlich führen zwei der drei Brüder sowohl mit Frauen als auch mit Männern intime Beziehungen. Diesen Satz muss ich wohl nicht nur gedacht, sondern ausgesprochen haben, denn plötzlich sagte der Mann, der mir im Zug gegenübersaß: „Aha, Schwuchteln also!“, stand wutentbrannt auf und verließ in Englschalking den Zug. „Nein nein“, sagte ich, „das sollte man etwas differenzierter sehen“, doch das hörte der wutentbrannte Mann nicht mehr, sondern nur der Mann neben mir aus Buxtehude. „Ja ja“, sagte ich zum Mann aus Buxtehude, „es ist nicht leicht für den dritten Bruder, der neulich mit aller Bestimmtheit und Zivilcourage zu seinen Brüdern sagte: Ich steh nur auf Muschis, und das ist gut so!“ In Zeiten der Me-Too-Debatte eine mutige Aussage, und ich hatte Glück, dass ich diese Aussage nur zitierte, denn sonst hätten sich sicher viele Frauen im Zug sexuell belästigt gefühlt.
Als ich in Ismaning aus dem Zug stieg, sah ich am Bahnsteig einen Mann, der mir bekannt vorkam. Ich fragte ihn: „Kennen wir uns?“ Er sagte: „Ich glaube nicht. Ich bin Ger aus Dingolfing.“ – „Dann habe ich Sie verwechselt“, sagte ich: „Ich kenne nämlich nur einen Ger aus Daglfing.“
Du siehst also, wie ich immer auf der Suche nach der Realität bin und das Fiktionale im Grunde verabscheue. Wenngleich sich die Realität in jeder Sekunde ändert und es nicht leicht ist, ihr zu folgen. Die Fiktion aus schwarz und weiß erscheint erträglicher und beständiger als die graue Realität. Wie sonst könnten weiße Männer der Fiktion erliegen, mehr wert zu sein als schwarze Männer und als Frauen jeglicher Couleur?
Ich hoffe, ich konnte dich von der Realität meines Textes überzeugen und kehre nun zu meiner Ausgangsfrage zurück: Bist du mehr der Realität oder mehr der Fiktion zugeneigt?
Bis bald, Dein Emil