Übermutter…

Spricht man von der Übermutter, vergisst man gern den Untervater. Ich hatte beides: eine Übermutter und einen Untervater.

Ich wuchs im Elternhaus meiner Mutter auf. Es wurde vergrößert, damit wir alle Platz haben. Alle, das waren: die Eltern meiner Mutter, meine Mutter, mein Vater, meine ältere Schwester und schließlich auch ich. Als ich fünf war, starb mein Großvater an den Spätfolgen seiner Kriegsverletzungen. Blieb mein Vater als männliches Oberhaupt der Familie. Mein Vater, im Krieg geboren, der früh seinen eigenen Vater verloren hatte, war aufgewachsen mit dem Glaubenssatz: Maul halten und funktionieren. So hielt er das Maul und funktionierte. Und wurde mein Untervater. Die Männlichkeit machte Platz für das weibliche Dreigestirn: Großmutter, Mutter, Schwester. Meine Großmutter übernahm fortan die Macht, wurde unumstrittene Herrin des Hauses. Meine Schwester begab sich an die Seite der Macht, wurde ein Herz und eine Seele mit meiner Großmutter. Zwei der drei Frauen wurden also Überfrauen, die keine Nähe zuließen. Waren sie überhaupt Frauen für mich? Waren sie nicht eher seltsam entrückte Menschen, die im selben Haus mit mir wohnten?

Wohin also mit meinen Bedürfnissen als kleiner Junge? Zu meiner Mutter! In der gegebenen Konstellation umso mehr. Ich verlangte alles von meiner Mutter: Geborgenheit, Liebe, Glück. Nur bei ihr suchte ich, was ich brauchte. Sie wurde meiner Übermutter, ohne dass sie es wollte.

Ich schlug mir die Stirn blutig an der Tischkante. Mein Vater lief entsetzt davon. Vermeidung als Funktionsstrategie. Meine Mutter blieb und tröstete mich, versorgte mich und brachte mich ins Krankenhaus. Mein Vater rundete unterdessen alle Tischkanten im Haus, um zukünftiges entsetztes Davonlaufen zu vermeiden.

Als ich ein Teen wurde, wurde meine Schwester interessant. Ich fand es toll, wenn sie sich am See oben ohne sonnte und ich ihre Brüste sehen konnte. Ich habe diesen Anblick als sehr schön in Erinnerung. So schön also können Frauen sein! Als meine Mutter sie für das Oben-Ohne-Sonnen tadelte, wurde mir zum ersten Mal klar, dass ich, je älter ich wurde, nicht mehr alles Glück von meiner Mutter würde verlangen können. Beim Anblick der Brüste meiner Schwester bröckelte erstmals der Status meiner Mutter als Überfrau. Aber da war sie längst meine Überfrau geworden. Es war für mich nicht vorstellbar, in meinem Leben einen anderen Glücksbringer zu finden als meine Mutter. Meine Verzweiflung darüber wurde sehr groß. Sie manifestierte sich unter anderem dadurch, dass Blumentöpfe gegen Fensterscheiben flogen.

Mein Untervater sammelte die Scherben ein, während meine Mutter instinktiv spürte, dass ihr Übermutter-Dasein in meinem Kopf ein Ende nehmen musste. Sie forderte psychologische Hilfe an. Diese psychologische Hilfe wiederum forderte meinen Vater auf, aus seiner Untervater-Welt aufzutauchen und mir so zu ermöglichen, ein Mann zu werden. Mein Vater bewies große Vaterliebe, denn er bemühte sich redlich. Doch sein Glaubenssatz Maul halten und funktionieren war so tief in ihm verwurzelt, dass er mir in unseren Vater-Sohn-Gesprächen vor allem vermittelte, dass Frauen die Macht haben und wir Männer uns dieser Macht zu unterwerfen haben. Ich wurde furchtbar wütend auf die Frauen, weil ich sie so sehr liebe und ihnen nicht dauerhaft unterlegen sein wollte. Die Frauen sollten fortan Erfüllung und Bedrohung zugleich für mich sein…