Du führst mich in deinen reichen Zitate-Wortschatz der Literaturgeschichte. Du hast ein Netz gebaut aus Zitaten und jonglierst auf ihnen. Ich besuche dich auf deinem Netz. Auf einem Netz krabbelt man. Das ist klar. Ich krabble gerne mit dir, auf deinem Netz aus fremden Zitaten. Wir krabbeln von Zitat zu Zitat zwischen den Leerräumen hindurch. Sieh mal, sagst du manchmal, wenn wir einen Knoten erreichen, das ist doch besonders wahr.
Schließlich führst du mich zu deinem neuesten Netzknoten, der heißt: aus der unmittelbaren Unwirklichkeit. Das verstehe ich nicht. Ich will doch sein. Und wenn ich unwirklich bin, bin ich dann? Ich finde deinen Körper sehr schön, wie er über das Netz krabbelt. Du sagst, ich solle nicht ablenken von den Zitaten. Aber wieso denn nicht? Darf das nicht sein, dass ich deinen Körper schön finde? Soll ich mich in die Unwirklichkeit des Zitates flüchten, wo dein Körper nicht ist?
Dann habe ich eine tollkühne Idee: Sollen wir uns mal zwischen den Leerräumen des Netzes hindurchfallen lassen? Es sieht doch ganz gemütlich aus da unten. Dein Blick wird böse und du sagst: „Niemals! Niemals will ich mich da hinunterfallen lassen!“
Du machst mir Angst, und ich denke: Stimmt! Niemals sollen wir uns da hinunterfallen lassen! Ich ändere also meinen Plan und knüpfe stattdessen einen neuen Knoten im Netz, mit einem Zitat von mir: Wo wollen wir unsere Wahrheit finden? Wissen wir, wo wir unsere Wahrheit suchen sollen? Ich glaube, wir wollen nicht wissen, wo wir sie suchen sollen. Skeptisch siehst du diesen neuen Zitat-Knoten an und berührst ihn nicht; so als würde er bei der kleinsten Berührung nachgeben und dich in die Tiefe reißen. Ich selbst erschrecke mich auch vor diesem Zitat, denn ich ahne, dass Wahrheit etwas zu tun hat mit Sich-Fallen-Lassen.
Wir hängen im Netz und halten uns beide fest an Zitaten, die uns Halt geben sollen. Doch dann wird mir schwindelig. Ich kann mich nicht mehr halten und falle.
Ich falle weich und hart zugleich. Denn ich spüre Gewissheit unter mir und nicht mehr das Zappelige des Netzes. Es ist angenehm auf dem Grund. Ich sehe von unten, wie du auf dem Netz von Knoten zu Knoten krabbelst. Dann baust du einen neuen Knoten, und der sagt: Das Abendland hat die Schrift erfunden, um sich vor Bedrohungen zu schützen. Das Abendland hat doch nicht die Schrift erfunden!, denke ich mir, aber vielleicht verstehe ich davon zu wenig. Ich verstehe ja auch nicht, für was Pegida genau demonstriert. Worte sind viel zu mächtig, denke ich weiter, und bin froh, dass ich auf den Boden meiner Wahrheit gefallen bin. Worte werden noch viel mächtiger, wenn sie aufgeschrieben sind. Dann werden sie für allgemeine Wahrheiten gehalten und versperren den Blick auf die eigene Wahrheit. Ich will nichts denken; ich will sein, bewusstsein.
Dann nicke ich ein, und in meinem Traum sagt einer zur Menge:
„Keiner lügt hier! Ich suche die Wahrheit für alle. Ich will nur noch die Wahrheit hören, nichts als die Wahrheit!“
„Das wird schwer“, ruft ein anderer aus der Menge. „Woher soll ich denn wissen, was die Wahrheit ist? Ich lüge doch, wenn ich behaupte, dass ich weiß, was die Wahrheit ist.“
„Verräter!“, ruft der eine, und die Menge stürzt sich auf den anderen.
Erschreckt fahre ich hoch. Ich blicke nach oben und sehe dich über mir krabbeln und an deinem Netz basteln.
„Lass dich fallen!“ rufe ich dir zu.
„Das hättest du wohl gern.“
„Ja, das hätte ich gern. Sehr gern.“
„Das kannst du dir abschminken. Es ist viel zu gefährlich bei dir da unten. Viel zu gefährlich.“
Ich kann es kaum erwarten, dass du dich zu mir herunterfallen lässt. Doch vielleicht passiert es nie. Vielleicht ist es eine Wahrheit, die ich akzeptieren muss. Ich sehe, dass du Alkohol und Tabletten benutzt, um das Netz geschmeidig zu halten; denn die Worte allein werden zu schnell spröde und leer. Du baust eifrig an deinem Netz, machst die Knoten dichter; um den Fall ins Offene deiner Wahrheit zu verhindern, wo nichts mehr verborgen werden könnte.