Als ich erwachsen wurde, merkte mein Vater, dass er mich nicht weiter würde beschützen können vor den Schlägen dieser Welt, dass er mich entlassen muss ins Leben, auf die Gefahr hin, dass ich Schläge abbekomme. Die Angst, dass sein Sohn Schläge abbekommen könnte, solche Schläge abbekommen könnte wie er, diese Angst hat er nicht ertragen. Auch das Trinken half nicht mehr: Diese Angst wurde zu groß. Mein Vater hat nie gelernt, Dinge auszusprechen. Deshalb blieb er allein in seiner Angst. Deshalb hat er es nicht mehr ausgehalten. Deshalb hat er beschlossen, zu gehen, leise, ohne etwas zu sagen. Wurde einfach krank, todkrank, starb und verstummte endgültig.
Viktor Frankl sagt, es gibt keine Täter und keine Opfer. Es gibt nur Menschen, die sich zu Tätern machen und andere zu Opfern und Menschen, die sich zu Opfern machen und andere zu Tätern. Aber sie bleiben immer Menschen. War mein Großvater also ein Mensch, der sich zum Täter gemacht hat und andere zu Opfern und mein Vater einer, der sich zum Opfer gemacht hat und andere zu Tätern? Oder sollte ich endlich aufhören, in Täter- und Opferkategorien zu denken?
Das Zimmer meines Therapeuten, in dem die Blätter auf dem Boden liegen, verwandelt sich in eine Lichtung, die vom Vollmond beschienen wird. Die Bäume stehen wie stumme Wächter ringsherum. Da erscheint mein Großvater auf der Lichtung. Er ist nicht so, wie sie mir von ihm erzählt haben, nämlich besoffen und schlagfertig, sondern klar und ruhig. Mein Großvater sagt: Natürlich bin ich gegen den Krieg, natürlich. Doch ich bin nicht Herr geworden über den Krieg, über den Krieg in mir. Stattdessen haben andere ihn abgekriegt: die Juden. Dein Vater. Dann geht er fort, über die in mondblau getränkte Lichtung hinweg, auf der ich jetzt meinen Vater stehen sehe. Mein Großvater nimmt meinen Vater in den Arm, als wäre der Krieg nie ein Thema gewesen, sondern nur die Liebe, die Liebe, die Liebe. Ich blicke zur Erde: Ich rieche und spüre sie in ihrer nächtlichen Feuchte und Kühle. Ich denke an die Juden, auf die mit dem Finger gezeigt wurde, auf die die Waffen gerichtet wurden, die getötet wurden. Ich denke an die Friedfertigkeit predigende Christenheit, die seit Jahrhunderten an das Morden gewöhnt ist.
Und nun zum dritten Zettel, sagt der Therapeut und holt mich von der Lichtung ins Zimmer zurück: zu dir! Entsetzt blicke ich auf den Zettel, also auf mich. Was soll ich denn nun machen in diesem emotionalen Chaos, in diesem Jammertal der Ahnen? In diesem verworrenen Krieg mit meinen Vätern? Die Wut hat mich müde gemacht, sage ich. Ich habe keine Kraft mehr, auf meinen Vater und meinen Großvater wütend zu sein. Ich finde keine Kraft bei meinen Vätern, bei diesen Verlierern! Wie soll ich Kraft haben für mein eigenes Leben? Verzweifelt werfe ich mich auf den Boden und weine, weine, weine. Dann richte ich mich auf und schreie, schreie, schreie. Meine Fassade der Friedfertigkeit zerbröselt. Der Krieg ist endgültig ausgebrochen in mir und überwältigt mich. Alle Versuche aber, die Angriffe gegen meinen Großvater fortzusetzen, laufen ins Leere. Ich bin zurückgeworfen auf mich selbst. Ich kehre zurück zur mondblauen Lichtung, auf der ich eben meinen Großvater getroffen habe. Ich sehe ihn am anderen Ende stehen, am Waldrand, bei den schwarzen Bäumen der Nacht, mit meinem Vater. Dort sind sie also stehen geblieben. Warten sie auf mich? Ich denke mir: Ihr könnt mich doch jetzt nicht alleine lassen! Ich brauche euch! Verschwindet nicht im Wald, wartet! Ich stehe auf und laufe, so schnell ich kann. Ich laufe auf die beiden zu und habe das Gefühl, gleich erbarmungslos in sie hineinzustoßen, mit einem heftigen Aufprall, doch plötzlich heben sie mich mit einer eleganten, kraftvollen Bewegung auf ihre Schultern und laufen mit mir weiter.
So reite ich auf den Schultern meines Vaters und meines Großvaters durch die mondblaue Nacht. Es ist wie ein Traum, aber es ist wahr: Ich reite auf den Schultern meines Vaters und meines Großvaters durch die Nacht. Ich spüre ihre Kraft unter mir. Sie tragen mich. Es tut gut, die Dinge etwas erhöht zu sehen. Es tut gut, nicht im Sumpf der Trauer zu kriechen, sondern die Luft der Höhe zu atmen.
Wieder im Zimmer meines Therapeuten angekommen, fällt mir als erstes auf, wie die Sonne durch das Fenster scheint. Der Krieg in mir scheint aufgelöst. Und wenn nicht, herrscht zumindest ein Waffenstillstand, den ich in dieser Qualität noch nicht kenne. Der Kriegsschauplatz meiner Beziehung zu Josefine? Den gilt es schnellstens zu befrieden, und ich glaube, es liegt in meiner Hand. Ich hoffe nur, dass die Fronten zwischen ihr und mir mittlerweile nicht zu verhärtet sind, jetzt, wo sich die Fronten in mir endlich gelockert haben und der Krieg dem Frieden eine Chance zu geben scheint.
* ENDE *