Die Welt als Haushalt und Gegensatz

Professor Dr. Dr. Rainer Schmorn, ein Universitätsprofessor für Philosophie und Wissenschaftstheorie, öffnete eines Morgens die Besteckschublade in seiner Küche, um daraus einen Löffel zu entnehmen. Doch er fand keinen Löffel darin. Er seufzte. Er hatte vergessen, am Vorabend den Geschirrspüler anzumachen. Also öffnete er die Klappe des Geschirrspülers, entnahm daraus einen schmutzigen Löffel und spülte ihn ab. Dann setzte er sich mit dem Löffel an den Tisch, wo eine Schale mit Müsli stand, und begann zu essen.

Seit Clarissa nicht mehr da war, musste er seinen Haushalt alleine führen. Es machte ihn einerseits stolz, dass er endlich, im fortgeschrittenen Alter, einen Haushalt alleine führte. Bisher hatte er das immer den Frauen in seinem Leben überlassen, zunächst seiner Mutter, dann Clarissa. Andererseits überforderte ihn die Haushaltsführung. Seine geistige, wissenschaftliche Arbeit litt unter dieser neuen Herausforderung. Er hätte sich eine Haushälterin anstellen können, aber das erschien ihm nicht zeit- und frauengerecht. Ist Haushaltsarbeit zwingend weiblich und von Männern nicht zu bewältigen? Professor Schmorn blickte traurig auf und betrachtete das Bild von Clarissa und ihm, das noch immer an der Wand hing. Dann stand er auf und gab den benutzten Löffel wieder in den Geschirrspüler.

Er ging, wie immer, zu Fuß zu seiner Arbeit an der Universität, die etwa zehn Gehminuten von  seiner Wohnung entfernt lag. Er begrüßte seine Kollegen und Mitarbeiter am Institut, um anschließend in den großen Vorlesungssaal zu gehen. Er hielt dort eine Vorlesung für Erstsemestrige und begann seinen Vortrag so:

„Was machen wir an der Universität, in den Wissenschaften? Wir beobachten die Phänomene und erschaffen Begriffe für sie, um aus den geschaffenen Begriffen unser wissenschaftliches Weltbild zu formen. Was ist zuerst da, das Phänomen oder der Begriff? Natürlich das Phänomen – zumindest ist das mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen -, aber um es beobachten und abgrenzen zu können von anderen Phänomenen, müssen wir es zumeist erst begrifflich definieren. Nehmen wir als Beispiel das Phänomen des Haushalts: Unter einem Haushalt verstehen wir die wirtschaftliche Einheit einer Person oder mehrerer zusammenlebender Personen. Wir haben also das Phänomen Haushalt definiert, um es beobachten zu können. Ein Haushalt ist zunächst ein in sich ruhender, harmonischer Begriff. Doch ein Haushalt ruht nicht, genauso wie die Welt nicht ruht. Sie bewegt sich, zwischen den Polen. Was sind die bekanntesten menschlichen Pole? – Männlich und weiblich. Bewegt sich ein Haushalt zwischen den Polen männlich und weiblich? Vielleicht, obwohl sich hier beobachten lässt, dass traditionell in unserer Kultur das Pendel zum Weiblichen ausschlägt, was den Haushalt betrifft.“

Professor Schmorn erntete verständnislose Blicke aus dem Auditorium der jungen Studenten. Er nahm diese Blicke auf und fuhr fort:

„Heute gibt es aber mehr denn je das Phänomen des rein weiblichen und des rein männlichen Haushalts, und es lassen sich keine signifikanten, wissenschaftlich definierbaren Unterschiede daraus feststellen. Vielleicht sollten wir stattdessen für den Haushalt die Pole ordentlich und schlampig einführen. Diese Pole habe ich aus meiner Erfahrung hergeleitet. Was ist nun unsere nächste Aufgabe als Wissenschaftler? Wir definieren die eingeführten Pole für Haushalte. Was ist ein ordentlicher Haushalt, was ist ein schlampiger Haushalt? An welchen Kriterien können wir das festhalten? Ein wichtiges Kriterium in einem Haushalt ist das Abspülen, und aus diesem Kriterium lässt sich folgern, dass in einem prototypischen ordentlichen Haushalt nach dem Essen abgespült wird, während in einem prototypischen schlampigen Haushalt vor dem Essen abgespült wird.

Meine Damen und Herren, ich will Sie nicht länger mit theoretischen Abhandlungen quälen, sondern fordere Sie auf, sich selbst Phänomene ins Gedächtnis zu rufen, die Ihnen in Ihrem Leben bereits begegnet sind, diese begrifflich zu formen und über ihre Polarität nachzudenken!“

Während er das sagte, entdeckte Professor Schmorn eine junge Frau im Auditorium, die ihn an die junge Clarissa erinnerte.

Polarität