Vorderbrandner hatte ein Treffen mit dem ägyptischstämmigen Künstler Bahiti Chigaru arrangiert, und weil Vorderbrandner große Stücke auf Bahiti Chigaru hält, hatte er den Lokalreporter einer großen süddeutschen Tageszeitung zu diesem Treffen eingeladen. Der Lokalreporter war dieser Einladung gefolgt und gekommen. Zu Beginn des Treffens informierte Vorderbrandner den Reporter, dass er sich mit Bahiti Chigaru im folgenden über die Logik in der Sprache unterhalten wolle. Daraufhin meinte der Reporter, dass das ein Thema sei, das durchaus interessant sei, er jedoch bezweifle, dass es seine Redaktion genauso sehe. Vorderbrandner platzte daraufhin der Kragen, und er schrie den Lokalreporter an:
„Über jedes noch so dilettanische Laienschauspiel in einem abgehalfterten Gemeindezentrum berichten Sie und stellen es als große künstlerische Errungenschaft dar! Oder diese ganzen Hobbymaler und Hobbyschriftsteller, die nichts zu malen und nichts zu schreiben haben, die Sie mit einer Schleimspur in Ihr Blatt hineinredigieren! Aber über Bahiti Chigaru, der schon oft bewiesen hat, wie großartig er die menschliche Existenz darzustellen vermag, der die Ambivalenz der Dinge würdigt wie kein zweiter, über den wollen Sie nichts schreiben! Ich dachte immer, die Presse sei ein sensibles Organ für gesellschaftliche Notstände, aber Sie sind nur ein erbärmliches Anhängsel irgendwelcher Lobbies! Sie haben Angst, nichts als Angst! Jeder Buchstabe, den Sie schreiben, schreit vor Angst! Sie sind an Einfältigkeit nicht zu überbieten! Gehen Sie, verlassen Sie diesen Raum, Sie nichtsnutziger Schmarotzer dieser Gesellschaft!“
Der Lokalreporter wollte zunächst etwas erwidern, überlegte es sich dann jedoch anders und ging mit geöffnetem Mund zur Tür hinaus.
Eine Weile saßen Bahiti Chigaru und Vorderbrandner daraufhin schweigend da. Dann stand Chigaru auf und holte drei Notenständer, die in der Ecke des Raumes lehnten. Er stellte sie in der Mitte des Raumes auf und sagte zu Vorderbrandner:
„Valentin, ich bemerke deine Erregung. Das ist nicht schlimm! Wir werden diese Erregung nutzen für unsere Arbeit. Wir wollten über die Logik in der Sprache sprechen. Du hast vorhin, in deiner Erregung, über Notstände gesprochen. Da ist mir aufgefallen, dass ich dieses Wort lange nicht kannte. Als ich als Kind nach Österreich kam und deutsch gelernt habe, erschien mir eines sehr unlogisch: die Mehrzahlbildung. Es gibt Regeln, aber ich bekam sie nicht in mein Hirn. So dachte ich lange, die Mehrzahl von Notstand sei nicht Notstände, sondern Notenständer. Das war meine Logik: ein Notstand, mehrere Notenständer.
Dazu eine kurze Geschichte: Nehmen wir an, ein Notstand heißt Engelbert, ein anderer Adolf – wir haben also zwei Notenständer, nach meiner früheren Logik. In diesem Raum haben wir drei Notenständer. Wer ist also der dritte Notstand? Manche würden ihn Norbert nennen, andere Heinz-Christian, andere Roman Haider. Aber soll man die Notenständer auf dieses braune Gesindel im deutschsprachigen Raum beschränken? Nein! Vielleicht will dieses braune Gesindel uns nur zeigen, dass überall auf dieser Welt Notenständer herrschen, als eine Art repräsentativer Querschnitt.“
Bahiti Chigaru verteilte die drei Notenständer im ganzen Raum und fuhr fort:
„Angenommen, dieser Raum ist die ganze Welt. Es gibt überall auf der Welt Notenständer. Mein Notstand der Kindheit heißt Hosni, andere nennen ihren Notstand Viktor, Recep, Vladimir oder Donald. Aber wie wir die Notenständer auch nennen – ist es nicht vor allem wichtig, die Menschen hinter diesen Notenständern zu erkennen? Warum handeln diese Notenständer wie Notenständer? Ist es die Stimme der Menschheit, die sie treibt? Ist man nicht zuallererst selbst gefordert, kein Notenständer für andere zu werden beziehungsweise sich von anderen nicht zum Notenständer machen zu lassen? Vielleicht bin ich naiv, aber ich habe immer die Hoffnung, dass Notenständer vor allem auch Menschen sind, die andere Entwicklungsmöglichkeiten haben als Notenständer zu sein.“
Er machte eine kurze Pause und fuhr fort: „Entschuldige! Ich bin etwas vom Thema abgekommen. Eigentlich wollte ich nur erklären, dass Notenständer für mich immer die Mehrzahl von Notstand waren. Das war für mich vollkommen logisch. Deine Erregung jedoch hat mich zu weiteren Ausführungen verleitet.“
Bahiti Chigaru blieb stehen, inmitten der Notenständer. Ist das die hohe Schule der Installationskunst? Vorderbrandner hatte sich mittlerweile wieder beruhigt, fühlte sich aber wie ein Notenständer. Er bereute es, den Lokalreporter so rüde verscheucht zu haben: Vielleicht hätte er ja über den soeben gehaltenen Vortrag von Bahiti Chigaru einen Artikel geschrieben.