Unglückliche Umstände

Ich erlebe meine Mutter seit jeher als eine angespannte, unglückliche Frau, sagt Vorderbrandner, aber sie selbst rationalisiert ihr Angespanntsein und ihr Unglücklichsein seit jeher, das heißt sie sagt nie: Ich bin angespannt und unglücklich, obwohl sie sich angespannt und unglücklich fühlt, sondern sie sagt: Die Umstände meines Lebens machen mich angespannt und unglücklich, es ist ganz klar, dass ich angespannt und unglücklich bin, es geht gar nicht anders, wie sollte es anders sein, bei den Umständen meines Lebens. Sie rennt von Arzt zu Arzt und klagt über ihr Angespanntsein und Unglücklichsein, aber keiner kann mir helfen, sagt sie, jeder bestätigt mir nur, dass ich angespannt und unglücklich bin.

Ihr Lieblingsarzt, ein Psychiater, zu dem sie schon sehr lange rennt, bestätigt ihr immer wieder, dass sie ein toller, wenn nicht sogar ein hervorragender Mensch sei, aber die Umstände ihres Lebens zwängen sie dazu, ein angespannter und unglücklicher Mensch zu sein.

Einmal bat mich meine Mutter, zu ihrem Lieblingsarzt mitzukommen, denn es wäre besser, familiäre Konflikte mit einer dritten, neutralen Person zu besprechen. In der Absicht, die leidensreichen Umstände des Lebens meiner Mutter, die zu ihrem Angespanntsein und Unglücklichsein führen, zu mildern, kam ich mit, woraufhin der Arzt mich belehrte, mit welch schwierigen Umständen meine Mutter zu kämpfen habe, mit meiner ungehörigen und unbelehrbaren Schwester etwa, warum meine Schwester, ihre Tochter – er zeigte verständnisvoll auf meine Mutter – so ungehörig und unbelehrbar sei, wisse er nicht, er kenne sie ja nicht, und er sei froh, nun wenigstens mich kennenzulernen, den Sohn, denn auch ich sei ein schwieriges Kind, ein Umstand, der meine Mutter belastet, und so zementierte sich bei diesem Gespräch erneut mein in der Kindheit entwickelter Grundsatz, dass Männer für Frauen schwierige Umstände seien, Umstände, die Frauen belasten, die sie angespannt und unglücklich machen, denn auch mein verstorbener Vater wurde erwähnt, der als Vater völlig versagt habe, was zu meinem schwierigen Sohnsein geführt hätte, zu meinem Sohnsein, das für meine Mutter eine große Belastung sei, ich sei quasi die Fortsetzung des belastenden Männerdaseins für die Frauen im Allgemeinen und für meine Mutter im Speziellen, die Aussagen des Arztes prasselten wie schwere Vorwürfe auf mich ein, ich war nicht fähig, weder mich selbst noch meinen Vater zu verteidigen, auf mein und sein Recht zu pochen, ein Mann zu sein, sondern ergab mich devot meinem Schicksal als Belastung für die Frauen im Allgemeinen und für meine Mutter im Speziellen: Männer sind für Frauen belastende Umstände, die sie angespannt und unglücklich machen. Dabei ließ ich völlig außer Acht, und ich hatte den Eindruck auch der Arzt, dass auch meine Schwester als Frau ein belastender Umstand für meine Mutter sei, und weil ich es außer Acht ließ, fragte ich nicht nach, was der Grund sein könnte, dass auch meine Schwester, obwohl sie kein Mann ist, ein belastender Umstand für meine Mutter sei.

Johanna sagt nicht, dass sie mich liebt, sagt Vorderbrandner, aber ich spüre es, ich spüre, dass ich kein belastender Umstand für sie bin, der sie angespannt und unglücklich macht. Johanna sagt: Es muss aufhören, das Beschuldigen, das generationenübergreifende Anklagen, es muss aufhören! Hör auf dich zu beschuldigen, nimm die Schuld von dir, entschuldige dich! Du bist erwachsen genug dazu.

Prinzessin aus dem Osten

Im Zentrum ist die Residenz, sowieso, im Norden Schloss Schleißheim, im Westen Schloss Nymphenburg, im Süden Schloss Fürstenried. Nur im Münchner Osten, wo du geboren und aufgewachsen bist, wo du lebst, gibt es kein Schloss. Bist du trotzdem die Prinzessin aus dem Münchner Osten? Oder bist du die Proletin aus dem Münchner Osten, die gerne Prinzessin wäre, und ich der dahergerittene selbsternannte Prinz, der dir ein Schloss im Münchner Osten baut?

Letzte Nacht träumte ich, die Kreillerstraße entlangzugehen, diese breite Aus- und Einfallschneise des Münchner Ostens. Im flachen Sonnenlicht des Morgens erschien sie mir wie eine königliche Allee. Mein Flanieren führte mich an der Behr-Villa vorbei, Hausnummer 25. Ich sah dich am Fenster stehen, und für einen Moment dachte ich: Das ist es, das Schloss im Münchner Osten, in dem meine Prinzessin wohnt. Ich ging unter dein Fenster, und du sprangst mir mit deinem weiten weißen Kleid entgegen, direkt in meine Arme. Das war eine Realität, die meinen Traum beinahe beendet hätte.

Doch wir landeten nicht hart, sondern federten und schwebten gemeinsam auf die Kreillerstraße, auf unsere königliche Allee, und gingen weiter, ostwärts. Wir gingen mit unseren kleinen menschlichen Schritten, die sich groß anfühlten, wie ein Larghetto, ja jemand spielte das Larghetto aus Händels Concerto Grosso in A-Moll und begleitete unseren Gang:

Ich fragte mich, wo wir hingehen, und ich fragte mich nicht, denn es war klar, dass wir nach Osten gehen, es kann nie östlich genug sein mit dir, du Prinzessin des Ostens, du Prinzessin der aufgehenden Sonne.

Mich beschlich eine Ahnung, dass dieser Traum zu Ende gehen soll, dass es Zeit ist, die Augen zu öffnen und in der Realität anzukommen. Ist die Kreillerstraße nicht eine der häßlichsten Straßen Münchens, eine Straße im Münchner Osten, an der kein Schloss steht? Wann geht diese Täuschung vorbei, um mich zu enttäuschen?

Der Traum ging nicht vorbei. Wir gingen immer weiter diese königliche Allee entlang, der aufgehenden Sonne entgegen, und ich dachte mir: Was braucht der Münchner Osten ein Schloss, wenn er eine Prinzessin hat?