Ratg-Eber

Die Zahl 4, vermutet Vorderbrandner, begleitet mich seit meiner Geburt. Obwohl seit jeher mehr zu den Buchstaben als zu den Zahlen hingezogen, liebe ich es, vier Buchstaben in einer Reihe zu sehen, oder acht, die ich dann durch zwei teilen kann. In meiner frühen Schulzeit, als ich lesen und schreiben lernte, waren die Wörter dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebzehn, achtzehn und neunzehn aufgrund ihrer klaren 4+4-Struktur meine Lieblinge. Später wagte ich mich an komplexere Fälle wie das Wort Ratgeber heran, das ich nicht in die Worte Rat und Geber teilte, was drei plus fünf Buchstaben ergeben hätte. Ich blieb bei meiner strengen 4+4-Arithmetik und teilte das Wort in die Teile Ratg und Eber. Dabei stellte ich mir vor, dass Ratg eine Stadt sei, irgendwo im slawischen Sprachraum. Bald modifizierte ich diese Vorstellung dahin, dass Ratg eine bäuerliche Rotte sei, in der spezielle Eber, die Ratg-Eber, gezüchtet werden.

Später, im fortgeschrittenen Schulalter, vertraute ich nicht mehr meiner Vorstellungskraft, sondern recherchierte, was Ratg zu bedeuten habe, und fand heraus, dass Ratg in Österreich für Rechtsanwaltstarifgesetz steht. Nun war wieder meine Vorstellungskraft gefragt, nämlich darüber, was ein Rechtsanwaltstarifgesetz-Eber sein könnte. Ich studierte das österreichische Rechtsanwaltstarifgesetz, doch es stellte sich als eine zu abstrakte Basis dar, um Phantasie darüber zu entwickeln, was ein Rechtsanwaltstarifgesetz-Eber sein könnte. Wieso muss es unbedingt ein Eber sein? Wieso kann es keine Sau oder ein Ferkel sein, eine Ratg-Sau oder ein Ratg-Ferkel? Oder könnte man nicht allgemein vom Rechtsanwaltstarifgesetz-Schwein sprechen?

Ich verzweifelte über meinen Überlegungen, so Vorderbrandner weiter, und bekam den Eindruck, dass die Worte Ratg und Eber gemeinsam überhaupt keinen Sinn ergeben, zumindest nicht in meinem Kopf. Ich fragte meinen Deutschlehrer, ob er denn einen Sinn in der Kombination der Worte Ratg und Eber sehe, woraufhin mein Deutschlehrer sagte: Nein, aber wenn ich dir einen Rat geben darf…

Ich unterbrach ihn, denn ich hatte genug gehört. In meinen Ohren klangen die Worte Ratg und eben, woraufhin sich die Phantasie in meinen Kopf wieder aktivierte: Es muss sich bei Ratg um eine bäuerliche Rotte handeln, die in der Ebene liegt, auf ebenem Grund, um Platz für die Eber zu haben, die dort gezüchtet werden. Ich dachte sofort an Niedersachsen und seine riesigen Schweinefarmen, ruderte jedoch umgehend zurück, denn Ratg als Name einer niedersächsischen Bauernrotte konnte ich mir nicht vorstellen. War Ratg gar, trotz der vielen Berge und der wenig ebenen Flächen, eine Ansiedlung im Österreichischen, aufgrund des österreichischen Rechtsanwaltstarifgesetzes? Dazu würde die historische und geographische Nähe des Österreichischen zum Slawischen passen. Doch warum stellte ich mir Ratg als eine slawische Rotte vor? Dachte ich an die Stadt Ratibor, im schlesischen Tiefland gelegen (Ist es dort eben?), die jedoch nicht slawisch, sondern schlesisch ist?

In meiner völligen Verwirrtheit, so Vorderbrandner am Ende seiner Ausführungen, erschien mir mein Deutschlehrer. Und ich ließ ihn zu Ende sprechen: Wenn ich dir einen Rat geben darf: Weiche in diesem Fall – wenn es dir möglich ist – von deiner strengen 4+4 zu einer 3+5-Arithmetik ab!

Wahre Liebe

Anfangs fuhr ich den Neckar entlang, dann, bevor ich Stuttgart erreichte, bog ich ab und hügelte mich durchs Ländle. Ohne dich hätte ich diese Reise nicht unternommen. Du hast mich geschickt. Ich bin dir dankbar für überall, wo du mich hinschickst. Durch dich bewege ich mich, wie ich mich aus mir heraus nicht bewegte.

Ich kam an die Murr, einen Nebenfluss des Neckars. Ich sah die Murr nicht. Ich sah nur die Straße und die Häuser an ihr, und hatte ohnehin nur einen Blick für die Straßenschilder, um dort hin zu gelangen, wo du mich hingeschickt hast. Am Schleifrain – was immer das heißt – lieferte ich ab, um dann frei zu sein zu gehen, ins Land von Schiller, Hesse und Hölderlin. Ich verließ den Schleifrain und ging die Straße entlang, an den Häusern entlang, die hier Steinheime genannt werden. Schließlich war ich in Steinheim an der Murr. Die Murr sah ich immer noch nicht, stattdessen schwere Wolken am Himmel, und so beschloss ich, die hügeligen Fluren nicht zu durchwandern, sondern in einen Bus nach Marbach zu steigen. Der Bus hügelte nicht nach Marbach, sondern tunnelte sich durch Tunnels. Kurz vor Marbach, gerade aus dem Tunnel kommend, sah ich die Murr, wie sie in den Neckar fließt. In Marbach schillerte der Himmel nicht, im Gegenteil, die schweren Wolken hingen noch schwerer am Himmel, sodass ich nicht nach Schiller-Town ging, sondern am Bahnhof blieb und einen Zug nach Stuttgart bestieg.

Zunächst ließ ich mich über den Neckar brücken, um dann durch die Hügel nach Stuttgart hineingetunnelt zu werden, bis ich dem Zug ent- und aufwärts ins Tageslicht stieg, wo mich die Königstraße aufnahm. Stuttgart also, noch immer die schweren Wolken, zu denen der Dunst des gefallenen Regens hinaufstieg. Ich sah nicht die Möglichkeit hierzubleiben. Ich hatte zu große Sehnsucht nach dir. Ich wollte in Bewegung bleiben. Ich ging eine Schleife über Schlossplatz und Schlossgarten, bis ich die große Baustelle am Hauptbahnhof erreichte, wo mich ein Holzverschlag aufnahm, der in langem Bogen zu den Gleisen der Fernzüge führte. Mit hunderten Anderen durchschritt ich den Holzverschlag, die wie ich zu den Fernzügen wollten, und hunderte Andere kamen uns entgegen, die von den Fernzügen kamen. Wie zwei Kolonnen Gefangener durchschritten wir den Holzverschlag. Wie Opfer der modernen Welt. Back on the Chain Gang – ich hörte Chrissie Hyndes Stimme in meinem Kopf.

Wo warst du? Ich glaubte, dich verloren zu haben. Dass du mich nach Stuttgart geschickt hast, erschien mir eine harte Prüfung. Doch durch dich ist mir keine Prüfung zu hart. Du bist die Prüfung, die ich bestehen will.

Der Zug stieß hinaus aus der Stadt zum Neckar, fuhr ihn eine Weile entlang. Dann raste er durch die Tunnel nach Ulm. Bei Augsburg erreichte er den Regen, der an die Scheiben perlte. Ein Schauer durchjagte meinen Leib bei dem Gedanken, bald wieder bei dir zu sein.

Alles kommt und geht, sagtest du.
Jetzt sind wir hier, sagte ich.
Du liebst mich, sagte ich.
Ja, ich liebe dich, sagtest du.

Ich durchschritt die Bahnhofshalle. Ich bin gekommen, und ich werde gehen. Jetzt bin ich hier. From this moment on I know exactly where my life will go. Ich hörte John Lennons Stimme in meinem Kopf, während alle Gesichter mir sagten: Ja, es ist wahre Liebe. Die Stadt jubilierte. Das alles schien nur möglich, weil du mich nach Stuttgart geschickt hast. Muss man Stuttgart und sein Land nicht lieben? Es ist magisch, wie du mich das Glück erkennen lässt.