Rechts vor links

Vor ein paar Jahren fiel mir auf, dass nicht nur Frauen, sondern auch Männer neuartigen Ohrenschmuck tragen: Meist weiße Plastikteile, deren rundliches verdicktes Ende sie direkt im Ohrloch befestigen, es damit quasi verstopfen. Der Fortsatz des Plastikteils hängt seitlich am Ohr nach unten, wie ein kleiner Phallus. Frauen und Männer tragen also an den Ohren kleine Phalli spazieren, mit deren Hoden sie sich das Ohrloch zustopfen, dachte ich mir. Bis ich darüber aufgeklärt wurde, dass es sich bei den Plastikteilen um kabellose Kopfhörer handelt, die per Funk mit dem Handy verbunden sind.

Warum ich das erzähle? Weil ich erst heute eine so beschmückte Person an einer Kreuzung traf. An der Kreuzung gilt die Vorfahrtregel rechts vor links. Ich rollte mit dem Fahrrad heran und blickte nach rechts, als ich im linken Augenwinkel besagte Person mit dem weißen Ohrenschmuck bemerkte, die gedankenverloren in die Gegend blickte, wahrscheinlich weil sie dem Auditiven aus ihrem Kopfhörer lauschte, obwohl sie doch darauf hätte achten müssen, den RechtskommendenInnen Vorfahrt zu geben. Ich bremste, und die Person rollte langsam von links nach rechts an mir vorbei, meine Vorfahrt völlig missachtend. Ich ärgerte mich über diese Unachtsamkeit, die ich als Ignoranz erlebte, und sagte: „Rechts vor links.“
Aber die kopfhörende Person mit dem weißen Ohrenschmuck hörte nichts. Ich fuhr ihr hinterher und rief: „Hier gilt rechts vor links!“
Widerwillig gab sie, die Person, ihren Schmuck aus dem rechten Ohr – nein, dachte ich, falsch verstanden: rechts vor links gilt nicht für das Abnehmen des Ohrenschmucks – als sie, die Person, genervt fragte: „Was ist?“
„An dieser Kreuzung gilt rechts vor links. Du hast das eben völlig missachtet!“
„Na und“, sagte die Person: „Chill mal!“ Sie steckte ihren Ohrenschmuck wieder an und rollte weiter.

Zuhause ließ mir die Sache keine Ruhe. Ich hackte mich in das Handy der vorfahrtmissachtenden Person mit dem weißen Ohrenschmuck und fand folgende Posts darauf:

#Rechtsradikalengetroffen
#Sagtemirunverschämt
#Rechtsvorlinks
#Gehtgarnicht

Muss ein Dach?

Muss ein Dach,
dass es ist,
erst bedacht werden?

Muss ein Bach,
dass er fließt,
erst bebacht werden?

 

P.S:
Ich dachte an ein Dach
und dachte nach:
War zuerst das Dach,
oder mein Gedachtes danach?

Ein Rabe kam am Morgen

Ich trat am Morgen auf den Balkon, der mir vertraut und fremd zugleich war. Etwas Neues begann, nämlich ein neuer Tag, das war mir klar, so klar wie der Morgen. Es hört immer Altes auf und Neues beginnt. Zumindest wird es so gesagt. Doch an diesem Morgen hatte dieser sogesagte Neubeginn eine besondere Güte, denn als ich auf den Balkon trat, wusste ich plötzlich nicht mehr, wer ich bin. Ich dachte, ich sei ein Rabe. Ich sah auf die Grünfläche hinunter, die durch die mächtigen Zweige der alten Linde hindurch die ersten Sonnenstrahlen empfing. Ein Rabe war im Gras. Er pickte an etwas herum und verschlang es Stück für Stück. Dazwischen blickte er zu mir auf, doch ließ sich nicht stören. Immer wieder blickte er zu mir auf, nicht ängstlich, sondern bestimmt. Als er sein Morgenmahl verschlungen hatte, ließ er seinen Blick nicht mehr von mir. Durchdringend schaute er mich an. So als sei er ein Bote. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, der Rabe zu sein. Ich konnte nicht sagen: Dort ist der Rabe und da bin ich. Wir waren auf eine Weise eins, der ich mich nicht entziehen konnte.

In der Nacht vor diesem Morgen hatte sie mich zu sich genommen und bei mir Geborgenheit gesucht, ich bei ihr Sinnlichkeit, ich glaube das ist eine gute Zusammenfassung unserer gemeinsamen Nacht. Nach dem Erwachen lag sie auf dem Rücken. Ich setzte mich auf sie und betrachtete sinnlich ihren Körper, während sie sich geborgen fühlte und erzählte. Sie erzählte irgendwelche Sachen, die ich schon in dem Moment als sie sie erzählte vergessen hatte, ich hatte das Gefühl, sie erzählt, um zu erzählen, um die Geborgenheit zu steigern. Ihre Stimme gefiel mir, sie klang vertraut und beruhigend, und wahrscheinlich auch sinnlich, ja, auch sinnlich, denn ich begann mich zu streicheln, sie erzählte unterdessen weiter, ich wusste nicht, ob sie von meiner Erregung ablenken oder sie weitertreiben wollte, jedenfalls begann sie von ihrem Vater zu erzählen, es fiel mir auf, als sie von ihrem Vater zu erzählen begann, wahrscheinlich weil ihr Erzählen anders wurde, als sie von ihrem Vater zu erzählen begann und weil es mich wahrscheinlich zugleich mehr interessierte als das, was sie davor erzählt hatte. Sie erzählte von der tiefen Zuneigung zwischen ihr und ihrem Vater, die dann bei ihrem Vater in Abneigung umschlug, sie wisse bis heute nicht, warum diese Zuneigung in Abneigung umschlug, sie sagte: Wahrscheinlich weil seine siebte Frau jünger war als ich selbst, eine Frau jünger als die eigene Tochter kann man doch nicht lieben, sagte sie, da kann man doch gleich die eigene Tochter lieben! Dann stockte sie plötzlich, sie sagte nichts mehr und starrte schweigend die Decke an.

Ich suchte immer noch die Sinnlichkeit, aber sie war nicht mehr da. Sie befreite sich aus meiner Umklammerung und ging ins Bad. Ich stand ebenfalls auf, da ihr Bett nun ein Unort geworden war, der weder Geborgenheit noch Sinnlichkeit bot. Ich trat auf den Balkon. Der Rabe blickte zu mir und sagte mit seinem Blick: Abneigung ist eine averse Form von Zuneigung. Sie ist unerlöste Zuneigung, aber sie ist Zuneigung. Verstehst du? sagte er: Sie ist Zuneigung! Denn ohne Zuneigung keine Abneigung. Daraufhin krähte er einige Male laut, heftig bewegte er dabei seinen Kopf, um die Wichtigkeit seiner Mitteilung zu betonen, bis er schließlich seine Schwingen spannte und in den blauen Morgenhimmel verschwand.