Überall gerne 1

Im Grunde bin ich überall gerne. Es gab noch keinen Ort in meinem Leben, dem ich nicht ein wenig nachtrauerte, wenn ich ihn verließ, aber irgendwann hat mein Gehirn beschlossen, am gernsten in München zu sein, und so verlasse ich im Zweifel alle anderen Orte, um in München zu sein.

Als junger Mann habe ich erstaunlicherweise den Ort verlassen, an dem ich aufgewachsen bin. Erstaunlicherweise, weil tradionellerweise fast keiner aus der Familie der Hinterstoisser diesen Ort verlässt. Der Ort heißt Högl und liegt in einer Gegend, die ich Rupertiwinkel nenne und die viele andere auch so nennen. Ich verließ den Rupertiwinkel nicht direkt nach München, sondern über Graz, wo ich mich heftig verliebte und darüber depressiv wurde, um von dort nach Bologna zu ziehen, von wo mich meine erneute Verliebtheit nach London weiterziehen ließ. In London, wo ich mich gute zwei Jahre aufhielt, war meine Verliebtheit tendenziell wieder unglücklich, aber anders als in Graz wurde ich darüber nicht depressiv, sondern sie trieb mich zu dem Entschluss, nach München zu ziehen, um dort sesshaft zu werden.

Ich glaube, es war nicht nur mein Gehirn, dass mich nach München trieb, um dort am gernsten zu sein, nein, es war alles in mir, alle meine Gefühle und Regungen in jeder meiner Körperzellen sagten zu mir: Geh nach München! Denn ich ahnte, dass München eine große Stadt ist, die mir viele Freiheiten bietet, aber gleichzeitig in Reichweite des Rupertiwinkels liegt.

Dennoch fuhr ich in meiner Münchner Anfangszeit nicht in den Rupertiwinkel. Allein die Vorstellung, dies zu tun, versetzte mich in Angst und Schrecken. Ich hatte Angst, dort gefangen genommen zu werden und nicht mehr nach München zurückkehren zu können. Es war ein langsames Herantasten an den Ort meiner Kindheit und Jugend, wo mir Sachen widerfahren sind, von denen ich mich wohl mein ganzes Erwachsenenleben erholen muss. Wo meine Sozialisation zum sündigen Mann erfolgte, der ich wohl mein Leben lang geblieben wäre, wäre ich nicht, über Umwege, nach München geflohen.

Die Gegend zwischen München und Rupertiwinkel, also ein etwa hundert Kilometer langer Streifen, der von München ostsüdostwärts zieht, ist immer ein lebensnotwendiger Puffer für mich gewesen, seit ich in München bin. Anfangs wagte ich mich mit Josefine, die mich glücklicherweise auf meinen waghalsigen Expeditionen nach Ostsüdost fast immer begleitete, bis in den Chiemgau vor, wo wir am See weilten, oder, wenn es uns dort zu geschäftig wurde, wir uns in die Berge zurückzogen. Später logierten wir in Traunstein, also schon sehr nahe am Rupertiwinkel, während wir noch später den gesamten Rupertiwinkel durchquerten, um östlich von ihm in Salzburg Quartier aufzuschlagen.

Expeditionskarte

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Freundesquadrat

Er ist ein Typ mit Ecken und Kanten, das sehe ich vor allem an seinem Schädel, der kantig und wuchtig über seinem Rumpf thront. Er ist ein Quadratschädel aus dem Bilderbuch. Sein Schädel scheint zu groß und zu wuchtig für seinen Körper, der den Schädel schließlich tragen muss. Sein Rumpf, der schmalschultrig daherkommt und dessen markantestes Merkmal der zu einer Kugel ausgeformte Bauch ist, wird durch zwei stelzenartige Beine mit der Erde verbunden. Die stelzenartigen Beine, das sehe ich im Sommer wenn er kurze Hosen trägt, haben zwei auffallend spitze Knie, womit wir wieder bei den Ecken und Kanten wären.

Doch trotz gesamtkörperlicher Betrachtung bleibt am auffälligsten sein quadratischer Schädel, die Form seines Schädels ist mit ziemlicher Sicherheit auch der Grund, warum er sich nicht in einem Freundeskreis, sondern in einem Freundesquadrat bewegt. Zu viert sitzen er und seine drei Freunde an einem quadratischen Tisch, jeder hat dabei Karten in der Hand, sie schweigen, ab und zu nimmt einer einen kräftigen Schluck von seinem Bier. Tiefenpsychologen sprechen bei dieser Viererrunde, oder besser: bei diesem Viererquadrat, von latenter Homosexualität. Wobei ich diese These nicht bestätigen will. Nicht nur wegen der homophoben Thesen, die bei den seltenen Gesprächen am Tisch geäußert werden, sondern wegen der seltsamen Unkörperlichkeit am Tisch. Die vier Freunde führen nur minimalistischste Bewegungen aus, und zwar zum Kartenwerfen und zum Biertrinken. Ich habe noch nie gesehen, dass einer den anderen anfasst, berührt, an den Händen, an den Füßen, an den Schultern, am Rücken, im Gesicht, oder gar – und das spräche für die homosexuelle These – oder gar am Penis. Eine ganz und gar körperlose Runde, wobei es natürlich sein kann, dass durch die geäußerte Homophobie eine lähmende Angst vor Berührung herrscht, sodass vielleicht die latente Homosexualität im Raum herumschwirrt, ohne sich jemals körperlich zu äußern. Die Bäuche der vier Freunde scheinen sich gerade aus Protest gegen die körperlose quadratische Welt am Quadrattisch zu runden Kugeln zu formen. Als wollten sie sagen: Raus aus euren Ecken!

Kürzlich sehe ich den Quadratschädel in ungewohnter Umgebung: Er, der Schweigsame, geht lauthals parlierend inmitten zweier Frauen die Straße entlang. Er, der sich in quadratischer Runde nicht nur homophob, sondern auch misogyn gibt. Es ist jedoch zu bedenken, dass gerade in misogynen Kreisen, und hierbei sind wohl auch misogyne Quadrate wie in unserem Fall einzubeziehen, eine große soziale Verpflichtung herrscht, sich ein Weib zu nehmen, gerade wegen der Misogynie. Denn was ist ein Frauenfeind ohne Frau?

Der Quadratschädel spaziert mit den beiden Frauen die Straße entlang, er in der Mitte. Unentwegt redet er, dazu fuchtelt er wild mit den Armen, eine maximalistische Bewegungsverschwendung, ganz im Gegensatz zur Minimalistik der quadratischen Runde. Seine Storchenbeine stellt er breitbeinig in jeden Schritt, doch sein Fortgang sieht sehr wackelig aus, während sich das gebügelte Hemd um seinen Bauch spannt.

Dann erweitere ich meinen Blick auf das ganze Szenario und sehe, dass links von ihm seine Braut geht. Die Braut ist gelangweilt, denn der Quadratschädel redet hauptsächlich mit der Frau rechts von ihm, die die Brautmutter ist, bei der er um die Braut wirbt. Er hat seine quadratische Männerwelt verlassen, um eine Frau zu erobern. Es scheint eine Pflichtübung zu sein, eine lästige Aufgabe außerhalb seiner Welt. Er muss eine Frau erobern, um seinen Platz am Quadrattisch nicht zu verlieren. Um nicht von einem männlicheren Mann ersetzt zu werden. Also doch latente Homosexualität? Ist Homophobie Angst vor Homo- und Misogynie Angst vor Heterosexualität?