Ich fühle mich mit Josefine sehr verbunden, obwohl uns unsere eigenen Räume heilig sind. Gestern trafen wir uns an der alten Linde, an einem Raum, den wir uns teilen.
Die Sonne senkte sich gen Abend. Wir standen am Stamm der Linde und berührten mit unseren Händen die vom Tag aufgewärmte Rinde. Wir waren bereits in den Schatten eingetaucht, als von hoch oben aus den Zweigen ein Ruf ertönte. Wir blickten nach oben und sahen eine singende Kohlmeise im sonnendurchfluteten Geäst. Ohne den Blick zu senken, griff meine freie Hand nach der Josefines, während ihre freie Hand mir entgegen zu kommen schien, und so fassten wir uns an den Händen, zur Feier des Moments.
Nach einer Weile ging Josefine. Ich ließ sie gehen, ohne mitzukommen. Ich sah ihr nach, und als sie am Wäldchen war, um um die Ecke zu biegen, drehte sie sich um und wir winkten uns zu. Meine andere Hand noch immer an der warmen Rinde, blieb ich bei der Linde, bis meine Beine sich in Bewegung setzten, um mich Schritt für Schritt zu meinem Nachtlager zu führen.
So war das also gestern. Heute scheint wieder die Sonne. Morgen sollen sich laut Wetterbericht Wolken über das Land legen. Mein Weg führte mich heute wieder zur alten Linde, wo ich jetzt bin. Die erwartete Ankunft des Regens in den nächsten Tagen lässt die Sonne noch schöner scheinen, so wie der erwartete Tod das Leben noch schöner blühen lässt. Die Vögel singen wie am letzten Tag. Am Stamm der Linde sitzt ein Mitmensch, weshalb ich mit etwas Abstand in der Wiese verharre. Der Mitmensch spricht ohne Pausen in sein funkendes Sende- und Empfangsgerät. Er spricht Worte, die ich nicht vernehmen kann. Alles klingt wie ein dröhnendes Blablabla. Ich muss mich sehr konzentrieren, um die Vögel noch zu hören die den letzten Tag besingen, so sehr ist mein Verstand auf menschliche Worte getrimmt. Aber die Worte sagen mir nichts außer Blablabla, sie scheinen sich im Kreis zu drehen, völlig sinnlos auf sich selbst bezogen. Ein Ringeltanz der Worte. Aber wozu? Ahnt der pausenlos Sprechende den letzten Tag? Fürchtet er seinen Tod und will mit seinen Worten eine Festung dagegen errichten? Lasse ich mich in diesen Kampf hineinziehen, in diesen Kampf, der nicht gewonnen werden kann? Oder kann ich mich davon befreien?
Jetzt hat der Sprechende sein funkendes Sende- und Empfangsgerät weggelegt und spricht nicht mehr. Es herrscht plötzlich Stille, die meinem auf menschliche Worte getrimmten Verstand nicht gefällt. Mein Verstand ist in Alarmbereitschaft, falls der jetzt Stille wieder zum Sprechenden werden sollte. Sprechen geschriebene Worte auch? Schreibe ich deshalb?
Die Vögel singen und die Sonne scheint wie am letzten Tag. Ich spüre eine tiefe Dankbarkeit und schweife mit meinem Blick in die Ferne. Am Wäldchen sehe ich Josefine um die Ecke biegen.