Brief vom Regen an die Ruhr

Ich bin in der Stadt Regen am Fluss Regen, Regen fiel in Regen, auch in den Regen, der trotzdem, oder besser wegen dem fallenden Regen weiterfloss, ich beschloss, mich im Regen von Regen zu regen, mich also ein wenig zu bewegen, jedenfalls mich nicht aufzuregen, eher abzuregen, da zog der Regen schon wieder ab aus Regen, ich folgte keinem von beiden, weder dem fallenden noch dem fließenden Regen, der bei Regensburg in die Donau fließt, sondern blieb in Regen, kam ich doch gerade von der Ruhr, dort hattest du mich berührt, ich hatte mich berühren lassen, ich bekam zwar nicht die Ruhr, nein, meinen nervösen Darm gleich als an der Ruhr leidend zu bezeichnen käme mir übertrieben vor, trotzdem zeigt mir mein nervöser Darm, dass ich nach wie vor in Ruhr bin von deinem Berühren, in eiligem Bewegen und Erregen, was sich nicht nur in meinem eiligen Bewegen von Ruhr zu Regen ausdrückt, sondern nach wie vor auch über meinen Darm, wenn auch nicht mehr so heftig wie bei dir an der Ruhr, ich kann mir immer noch nicht erklären, was mich so in Ruhr brachte bei deinem Berühren, vielleicht muss ich es spezifizieren und es statt Ruhr als Aufruhr bezeichnen was sich an und in mir abspielt, dein Berühren hat bei mir alles ins Bewegen gebracht, der Aufruhr ist gewaltig, was anderes hätte ich tun sollen als an den Regen zu flüchten? es ist müßig darüber nachzudenken, ich habe es ja gemacht, bin an den Regen geflüchtet, doch kaum war ich angekommen, quälte mich die Sehnsucht nach dir, nach deinem Berühren, wieso bin ich nicht bei dir an der Ruhr geblieben? war der Aufruhr in mir zu heftig, um an der Ruhr zu bleiben? ich kann es nicht glauben, dass ich nun am Regen und nicht an der Ruhr bin, trotzdem glaube ich, dass der Regen am Regen mir gut getan hat, ich bleibe wohl noch eine Weile in Regen, ohne Regen, obwohl, vielleicht fahre ich doch gleich wieder an die Ruhr, um mich von dir berühren zu lassen.

Ode an die Ruhr

Der alte Herr an den roten Ampeln

Den alten Herrn sehe ich schon seit Jahren an der immer selben Kreuzung.

Die Kreuzung ist nicht vielbefahren, trotzdem war der Verkehr an ihr jahrelang durch Ampeln geregelt. Der alte Herr stand jedesmal wenn ich ihn sah an derselben Straßenecke an einer der beiden Ampeln. Immer war die Ampel, an der er stand, rot. Nie war die Ampel grün, nie ging er über die Straße, wenn ich vorbeikam. Er stand immer an einer der beiden Ampeln, wenn sie rot war. Das kam mir mit der Zeit merkwürdig vor.

Deshalb blieb ich eines Tages, als ich den alten Herrn wieder an der roten Ampel hatte stehen sehen und die Kreuzung passiert hatte, in einiger Entfernung selbst stehen, um ihn zu beobachten: Ich wartete gespannt, was er machen würde, wenn die Ampel grün wird – als sie grün wurde, ging er nicht über die Straße, sondern drehte sich um neunzig Grad und wechselte zur anderen Ampel, die rot war. Nun stand er an dieser Ampel. Als diese grün wurde, wechselte er wieder zur Ampel, die nun rot war. So ging das hin und her, er wechselte von der einen Ampel zur anderen. So war das also! Ich hatte genug gesehen. Ich hatte das Geheimnis des alten Herrn an der roten Ampel gelüftet und fuhr weiter.

Vor einigen Monaten wurden die Ampeln an der Kreuzung abgebaut und rechts vor links eingeführt. Ich sah den alten Herrn nun nicht mehr, was mir folgerichtig erschien: Es gibt ja keine roten Ampeln mehr, an denen er stehen kann. Trotzdem ging er mir nicht aus dem Kopf: Hatte er sich nun eine andere Kreuzung gesucht, an der er vor roten Ampeln stehen kann? Oder hat er sein Stehen vor roten Ampeln gänzlich aufgegeben?

Gestern kam ich wieder einmal an der Kreuzung vorbei, und der alte Herr stand, zu meiner Überraschung, ja, fast zu meiner Freude, wieder an der Straßenecke, so wie früher, als die Ampeln noch da waren. Er stand reglos und rührte sich nicht. Ich blieb stehen und gab ihm ein Zeichen, dass er die Straße überqueren kann. Er aber blieb stehen, reglos, mit starrem Blick, er setzte keinen Fuß auf die Straße. Nach einigen Momenten drehte er sich um neunzig Grad, ging ein paar Schritte an die Stelle, wo früher die andere Ampel stand, und blieb dort stehen.

Während dieser paar Schritte hatte er einen Zettel verloren. Der Zettel war zu Boden gefallen. Ich stieg vom Fahrrad und hob den Zettel auf, wollte ihn ihm geben, aber er reagierte nicht, blieb reglos stehen an der Stelle, wo früher die Ampel war. Ich faltete den Zettel in meiner Hand auf und las:

Ich bin Beamter geworden, weil mir schon damals klar war, dass Stillstand die sicherste Option im Leben ist. Alles muss geregelt sein, um nicht im Chaos des Lebens zu versinken. Meine Pensionierung war der erste Tod in meinem Leben, der erste Fall aus der Ordnung. Nun haben sie mir auch noch meine roten Ampeln weggenommen, die mir so viel Sicherheit gegeben haben. Wozu soll ich noch leben?

Ich hielt ein Manifest in Händen. Ein Manifest des Lebens des alten Herrn. Ich war ergriffen, so unvermittelt so viel über das Leben des alten Herren an der Kreuzung erfahren zu haben. Noch einmal unternahm ich einen zaghaften Versuch, ihm den Zettel zurückzugeben. Er aber ging an mir vorbei, als ob ich nicht da wäre, und wechselte zur anderen Ampel. Ich blieb eine Weile stehen und beobachtete ihn. Er ging in strengem Rhythmus hin und her, durch jahrelange Übung hatte er die Intervalle der Rot-Grün-Schaltungen verinnerlicht und brauchte die Ampeln gar nicht für sein Hin- und Hergehen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass die Ampeln wieder da sind, ich konnte sie sehen, durch sein rhythmisches Gehen. Es war wie früher, als wären die Ampeln nie abgebaut worden. Und gleichzeitig beschlich mich eine Ahnung, dass der alte Herr aus seinem Rhythmus ausbrechen würde, dass er die Straße betreten würde, sogar wenn die Ampel rot ist und niemand damit rechnen würde, nicht mal er selbst.

Zweitgrößte Stadt Deutschlands

Die Gründe, die mich in die zweitgrößte Stadt Deutschlands führten, sind im Grunde nicht wichtig, es ging lediglich um die schnellstmögliche Beförderung eines Automobils, und das geht immer noch am schnellsten mit einem Fahrer am Steuer desselbigen, also setzte ich mich ans Steuer des besagten Automobils und fuhr nach Ingolstadt, der Motor generierte thermische Explosionen in hoher Dichte, das Getriebe übertrug diese explosive Energie auf die Räder, was mich schnell nach Ingolstadt beförderte, das auf der nördlichen Halbinsel Oberbayerns liegt, umgeben von Niederbayern, der Oberpfalz, Mittelfranken und Schwaben, die Grenzen Bayerns verschwimmen in Ingolstadt, der Freistaat in Anarchie, jedenfalls war ich schnell in Ingolstadt, im Norden Ingolstadts, um genau zu sein, doch kaum angekommen, musste es plötzlich nicht mehr schnell gehen, ich hatte das Automobil geparkt am geteerten Parkplatz in der knallenden Sonne, ich stand neben ihm und hörte das Knistern der Karosserie, das Erholen von der rasanten Fahrt, heiß, heiß, Abkühlung notwendig und nicht möglich, ich wartete und wartete, der Empfänger des Automobils kam nicht, ich stand zwischen hohen, abweisenden Gebäuden hinter Zäunen, hoch geheim schien alles, ich wagte nicht einmal, das Automobil zu fotografieren, aus Angst, dabei selbst fotografiert und belangt zu werden, ich dachte, wohl um mich abzulenken von dieser Drohkulisse, an die größte Stadt Deutschlands, an Darmstadt, größer als Ingolstadt, weshalb Ingolstadt nur die zweitgrößte Stadt ist, ich bin noch nie in Darmstadt gewesen, doch: einmal, doch ich habe Darmstadt nur durchfahren, mit einem Automobil, das zählt nicht, zumindest nicht in meiner Rechnung, endlich kam der Empfänger des Automobils, er nahm Schlüssel und Papiere entgegen, hektisch, konspirativ, jetzt ging plötzlich alles wieder schnell, ich grüßte und ging, der Gruß war grußlos, ein Wort ohne Wert, wir mochten uns nicht, wir hatten keinen Grund uns zu mögen, jeder in Eile zu anderen Dingen, ich zu meinem Zug, der mir trotz der Eile vor der Nase davonfuhr, er hatte mich zu lange warten lassen, der Empfänger des Automobils, natürlich konnte er nicht wissen, dass ich nach einer rasanten Fahrt immer noch in Eile war, dass er durch sein Michwartenlassen mich den Zug verpassen ließ, ich glaube, er fährt nur Automobil, nie Zug, er kennt nicht das Gefühl des Zugverpassens, ich verließ den Steig an den Schienen, was nun in dieser trostlosen Welt, da sah ich einen Bus, Fahren Sie zum Hauptbahnhof? – Ja, auch, ich stieg in den Bus, verließ das weite Industrieareal mit seinen hohen, abweisenden Gebäuden hinter Zäunen, die enge Innenstadt Ingolstadts, in die der Bus fuhr, wirkte wie eine Befreiung, erst recht die Überquerung der Donau, südlich der Donau liegt der Hauptbahnhof, dort angekommen stieg ich aus dem Bus, ich überlegte nun, ob es passend wäre, nach Darmstadt weiterzufahren, während dieser Überlegungen fuhr ein ICE nach Düsseldorf ein, im übrigen das größte Dorf Deutschlands, doch ich ließ diesen ICE ohne mich abfahren, ich verwarf auch die Idee, nach Darmstadt zu fahren, ich hatte genug von Städten und Dörfern, mögen sie auch noch so groß sein, ich setzte mich in einen Zug nach München, nach dorthin, von wo ich das Automobil nach Ingolstadt gefahren hatte.

Prinzipienreiter

Ipien ist ein historischer Landstrich, in dem das Adelsgeschlecht der von Ipien herrschte. Heute gibt es Ipien nicht mehr beziehungsweise der Landstrich, der so genannt wurde, wird jetzt anders genannt oder ist Teil eines anderen Landstrichs mit anderem Namen geworden. Ebenso wenig weiß man von den von Ipien, es hat sich nur die Legende eines Prinzen von Ipien überliefert, der ein leidenschaftlicher Reiter gewesen sein soll. Es gefiel ihm, sich hoch auf einem edlen Ross zu zeigen. Er ließ Gemälde von sich anfertigen, die ihn voller Anmut hoch zu einem edlen Rosse zeigen. Diese Gemälde besitzen heute hohen ikonographischen Wert.

Zu seinen Lebzeiten aber hatte der Prinz panische Angst davor, dass das ikonographische Bild von ihm zerstört werden könnte. Was, wenn jemand ihn sehen würde bei seinen Ausritten wie er gerade gähnt oder in seiner Nase bohrt, ja wenn er nur die Augen zu hätte, wenn dieser Jemand ein begabter Maler wäre und die ungünstigen Posen zu Papier brächte? Der Prinz ritt deshalb immer durch einsame Gegenden, Ipien war eine einsame Gegend und bot ihm für seine einsamen Ausritte ausreichend Raum, aber dennoch erschien dem Prinzen das Risiko zu hoch, in einer ungünstigen Pose festgehalten zu werden, in einem unbedachten Moment des Nasenbohrens, sodass er verfügte, dass ihn fortan ein ganzer Tross von Reitern begleiten sollte bei seinen Ausritten, der Tross sollte ihn umgeben, sodass er von seiner Umgebung nicht gesehen werden konnte.

Als er fortan mit seinem Tross unterwegs war, war er dennoch nicht zufrieden. Es missfiel ihm, dass die Reiter vor ihm nach vorne schauten und nicht zu ihm, dass sie nicht seine anmutige Haltung hoch zu Rosse bewunderten, und so verfügte er wieder. Nämlich dass die Reiter vor ihm rückwärts auf ihren Pferden zu sitzen haben, um ihn bewundern zu können. Diese Reiter mussten aber gleichzeitig die Kontrolle über ihre vorwärtsreitenden Pferde behalten, denn der Prinz war ein flotter Reiter, bevorzugt war er im Galopp unterwegs. Spezielle Zügel wurden entwickelt, damit die Reiter das Pferd von hinten steuern konnten, weiters eine eigene Zeichensprache zwischen den Reitern, damit die Reiter hinter dem Prinzen, die nach vorne schauten, die Reiter vor dem Prinzen, die nach hinten schauten, vor Gefahren warnen oder Kurven und Hindernisse ankündigen konnten.

Ipien hat also durch den Prinzen und seine edlen Ausritte in der Kavallerie neue Maßstäbe gesetzt: im Rückwärtsreiten und in der Kavalleriekommunikation. Ipien aber gibt es nicht mehr beziehungsweise der Landstrich, der so genannt wurde, wird jetzt anders genannt oder ist Teil eines anderen Landstrichs mit anderem Namen geworden. Vom Geschlecht der von Ipien haben sich nur die Ikonographien des Prinzen erhalten, wie er hoch zu einem edlen Rosse sitzt, allein vor einem weiten einsamen Landstrich, die also, so ist sich die historische Forschung heute einig, ein völlig verfälschtes Bild von den täglichen Ausritten des Prinzen geben.

Auch rückwärtsreitende Reiter sieht man nur noch selten, vor allem nicht im Galopp. Das einzige, was sich aus dieser Zeit erhalten hat, ist der Begriff der Prinzipienreiter, der an die Reiter erinnert, die rückwärts auf ihren vorwärts reitenden Rossen saßen, um den Prinzen von Ipien zu bewundern.