Denk an Jiří Parma 1: Pavela Plocova

Im Netz kannte man ihn als Prag Matiker, aber er heißt Jiří Parma, genauso wie der ehemalige Schispringer. Er ist in Harrachov aufgewachsen, wo die Schanzen stehen, von denen Jiří Parma, der Schispringer, am liebsten gesprungen ist. Er hat als Kind geträumt von Jiří Parma, Parma sprang von der großen Čerťák-Schiflugschanze in Harrachov und hat während des Flugs die Kontrolle verloren, es überschlug ihn in der Luft, er schlug hart auf dem Boden auf und versank ins bewusstlose Delirium, und obwohl er am nächsten Tag an der Schanze war, wo er Jiří Parma springen sah, nicht elegant wie einen Vogel, aber kontrolliert, sicher, ohne Sturz, glaubte er nicht was er sah, er sah Jiří Parma den Stürzenden, dieses Bild verfolgte ihn, obwohl Jiří Parma wenig gestürzt ist bei seinen Sprüngen. Kontrollverlust war seitdem eine ständige Bedrohung für ihn, Harrachov bedeutete für ihn Kontrollverlust, deshalb ging er weg aus Harrachov, er wollte seinen Namensvetter nicht mehr springen sehen, er ging nach Prag, er studierte Mathematik, um mittels Geometrie und Zahlen die Kontrolle über das Leben zu erlangen, doch inmitten der Geometrie und Zahlen traf er Pavela Plocova und verliebte sich heftig in sie – ja, sie hieß tatsächlich Pavela Plocova – und sie erinnerte ihn an Pavel Ploc, auch ein ehemaliger Schispringer, den er seit seinen Kindertagen in Harrachov auch als einen Stürzenden gespeichert hat, obwohl das wahrscheinlich gar nicht stimmt,

aber Pavel Ploc bedeutete für ihn genauso Kontrollverlust wie Jiří Parma, der Kontrollverlust verfolgte ihn auch in Prag, indem er Pavela Plocova traf und sich heftig in sie verliebte, er vernachlässigte wegen ihr Geometrie und Zahlen, bis sie eines Morgens von der Geliebten zur Hassfigur mutierte, eine Mutation, die ihn schwer verletzte, sie lagen im ersten Morgenlicht gemeinsam im Bett, als Pavela sagte: Už tě nemiluji, das ist tschechisch und heißt Ich liebe dich nicht mehr, nun war auch Prag durch Pavela endgültig ein Ort des Kontrollverlusts geworden, er versuchte sich von Prag zu abstrahieren, indem er sich jetzt voll auf Geometrie und Zahlen stürzte, dieses Stürzen wurde zur Manie und brachte ihn nach Deutschland, wo er Mathematik lehrt.

Das Deutsche, sagt Parma, habe immer eine Rolle gespielt in seiner Familie, sein Name habe zwar etwas mit der Stadt Parma in Italien zu tun, Vorfahren von ihm kämen von dort, als Parma aber unter habsburgischem, also österreichischem Einfluss war, deshalb seine Affinität für das Deutsche, nicht zufällig sei er in Deutschland, nichts im Leben sei zufällig, auch wenn er sich nicht erklären kann, wieso ihn der Kontrollverlust ständig verfolgt, so wie auf der Autofahrt vergangenes Frühjahr von Prag nach München, da habe ihn der Kontrollverlust wieder heimgesucht, als er diesen Mann im Radio hörte, der tiefe Ängste in ihm weckte, er hätte den Sender wechseln können, um diesem Mann nicht weiter zuzuhören, aber er hörte ihm weiter zu, er schrie den Mann an: Geh scheißen und entspann dich! – das hatte mal ein österreichischer Kollege zu ihm gesagt, als er stundenlang über Mathematik geredet hatte – aber der Mann im Radio hörte nicht auf, er redete und redete. Als er endlich aufgehört hatte zu reden und keine Resonanz mehr bot, fuhr Parma von der Autobahn ab und tief in einen böhmischen Wald hinein, dort stieg er aus dem Wagen und fing laut zu schreien an, seine Wut war eine unermessliche. Er rannte umher, verwirrt und verzweifelt, er hetzte mit Pavel, seinem Hund – nach Pavela benannt -, stundenlang über Stock und Stein. Sehr viel später, als er sich endlich beruhigt hatte, stieg er wieder ins Auto und fuhr weiter nach München.

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Über das allmähliche Verfertigen der Gefühle beim Schweigen

für Lucie und Amelie, meine Lehrmeister

„Was ist denn?“ frage ich sie und erwarte eine Antwort. Aber sie bleibt reglos auf dem Trampolin liegen, auf dem ihre Schwester hüpfen will, und schweigt. Etwas bewegt sie, das sehe ich, etwas, für das sie keinen Ausdruck findet, keinen sprachlichen zumindest, denn ihr Gesicht ist voller Ausdruck, sie lässt sich bewegen von diesem Etwas, gibt sich ihm hin und lässt sich von keinem Wort irritieren. Ich frage nicht weiter nach, ich spüre, es gibt nichts zu fragen, höchstens etwas zu ertragen, nichts zu sagen, was mit Sprache zu klären wäre, im Gegenteil, die Klarheit verschafft sich durch das Schweigen Raum. Sogar ihre Schwester schweigt, anstatt sich auf dem Trampolin Platz zu verschaffen.

Dann aber – schweigende Klarheit ist nicht so leicht zu ertragen mit den Gefühlen, die sie frei lässt – fängt ihre Schwester laut zu weinen an, während sie reglos auf dem Trampolin liegen bleibt. Ist jetzt der Augenblick, um als Erwachsener mit vernünftiger sprachlicher Intervention einzugreifen? Ich bin zu ergriffen von ihrem klaren Schweigen, um zu einer vernünftigen sprachlichen Intervention bereit zu sein, was ist das überhaupt, eine vernünftige sprachliche Intervention? Jedenfalls schlage ich vor, was ich mir selber oft vorschlage, um einer bedrückenden Situation den Druck zu nehmen, ich schlage vor, nach draußen zu gehen, in den Schnee, sie bleibt jedoch weiter ohne Regung auf dem Trampolin liegen, ihre Schwester rennt nun weinend aus dem Zimmer in den schützenden Schoß der Mutter. Nur mehr wir beide sind im Zimmer, sie richtet sich auf und sagt: „Ja, gehen wir Schlittenfahren!“

Wir packen uns warm ein und mäandern zum Schlittenhang, der ein gutes Stück von Zuhause entfernt ist. Wir biegen ab in Winkel, die wir noch nicht kennen, lassen uns in kleine Pfade leiten, die wir in unserer Muse entdecken wollen. Wir reden nichts. Sie summt eine Melodie, ich habe den Eindruck, sie gibt so ihrer Freude Ausdruck, ich nenne es Freude, wahrscheinlich gibt sie all ihren Gefühlen Ausdruck, den großen und mächtigen Gefühlen, die gleichzeitig so fein und nuanciert sind, dass sie sich jeder konkreten Benennung entziehen.

Wir verlassen unsere geheimnisvollen Pfade und kommen auf die Straße, die in den Park zum Schlittenhang führt. Sie sagt: „Ich habe meine Schwester gehört – ja bestimmt war sie das! Denn ich kenne ihre Laute sehr gut.“
„Vermisst du sie schon?“ frage ich.
„Nein, gar nicht“, sagt sie: „Wir streiten so viel, ich vermisse sie gar nicht.“

Als wir den Park erreichen, sehen wir – zu unserer Überraschung – ihre Schwester am Schlittenhang stehen. Sofort läuft sie los zu ihr, ihre Schwester läuft ihr entgegen, sie rennen so schnell sie können, sie rennen sich in die Arme, sie drehen sich und lachen laut, sie kugeln sich im Schnee.

Systemrelevanter Kältetod

Bei meiner systemrelevanten Tätigkeit der Überstellung von reparatur- und servicebedürftigen Automobilen von ihrem Besitzer in die Werkstatt, die ich momentan verstärkt ausübe mangels systemischer Relevanz meiner künstlerischen Aktivitäten, bin ich viel draußen. Deshalb trage ich in der kalten Zeit meine daunengefütterte Jacke. Sie ist meine Überlebensversicherung gegen die Kälte.

Bei meiner wärmenden Jacke ist jedoch der Reißverschluss kaputt gegangen. Ich verschränke die Arme vor meinem Körper, um sie notdürftig zu schließen und gehe mit dringlichen Schritten zur Änderungsschneiderei, um den Reißverschluss reparieren zu lassen. Bei diesem Gang stoße ich auf einen Demonstranten, der ein Schild in die Höhe hält mit der Aufschrift:

IMPFSTOFF IN FLASCHEN STATT IN DOSEN! STOPPT DEN ÖKOLOGISCHEN WAHNSINN!

Sie steht dabei vor einem Berg entsorgter Weihnachtsbäume, die gestorben sind, um Gottes Sohn zu gebären.

Ich fröstle mich weiter zur Änderungsschneiderei, die, als ich sie erreiche, verschlossen ist. An der Tür steht:

Lieber Kunde,
falls Sie mich dringend benötigen, irren Sie sich, denn meine Tätigkeit ist nicht systemrelevant.

Plötzlich schleicht die Kälte noch mehr unter meine Haut, eine Angst vor dem Erfrierungstod beschleicht mich. Ich stehe an der verschlossenen Tür, während die Autos an mir vorbeibrausen. Ein Auto müsste ich haben, das könnte ich reparieren lassen, damit es mich warm hält – im Gegensatz zu meiner Jacke: Die kann ich nicht reparieren lassen. Ich könnte eine neue Jacke online bestellen, aber die ökologische Verwerflichkeit dieser Tat widert mich an, sodass sie nicht in Frage kommt. Stoppt den Online-Konsumwahnsinn!

Während ich so verfroren dastehe und nach Lösungen suche, sagt Hubert zu Markus in der warmen Staatskanzlei:
„Moorkus, ich denke Änderungschneidereien sollten wir öffnen lassen, die Leute erfrieren uns sonst!“
„Ganz ehrlich Hubert“, meint Markus daraufhin: „Tote, die erfroren sind, sind meistens dumm und drogenabhängig gewesen – die hätten niemals CSU gewählt, oder – meinetwegen – Freie Wähler. Während Corona-Tote tendenziell alt oder krank oder beides gewesen sind – eine wichtige konservative Wählerschicht. Die dürfen wir nicht einfach so sterben lassen. Lieber ein erfrorener Toter als ein Corona-Toter. Jede Stimme zählt!“

Ich sehe mich als Halberfrorener vor einem Supermarkt betteln, ob mir jemand eine Semmel mitnehmen kann, da ich keine FFP2-Maske besitze. FFP2-Masken-Produzent müsste man sein – da bekäme man einen warmen Empfang in der Staatskanzlei. Plötzlich, mitten in die kalte Depression hinein, kommt mir die rettende Idee: Ich gehe zurück zum Demonstranten, werfe mich in den Haufen toter Tannenbäume hinter ihr und vergrabe mich darin. Die toten Tannenbäume werden mich warmhalten wie einen Igel unterm Laub, bis meine Änderungsschneiderei wieder öffnet und meine Jacke repariert. Und sollte ich der Kälte nicht trotzen, dann muss ich erkennen, dass mein Leben nicht relevant genug ist, um vor dem Tod geschützt zu werden.

Nachweihnachtswinterquartier

Kadaver im Kader

Die Redaktion hatte die Berichterstattung über den Kader für das Schirennen gerade abgesegnet, als plötzlich die Nachricht die Runde machte, dass von einem gewissen Noit, einem Mitglied des Kaders für das Schirennen, der Kadaver gefunden worden sei, woraufhin ein Mitglied der Redaktion meinte, man könne nun unmöglich über den Kader für das Schirennen berichten, sei doch Noit so etwas wie das Schlüsselmitglied des Kaders gewesen, schließlich lese sich Redaktion von hinten gelesen Noitkader, und dies sei der einzige Grund gewesen, überhaupt über den Kader für das Schirennen zu berichten, jetzt, ohne Noit, sei dieser Grund weggefallen, man werde nun über den Kader für das Schirennen überhaupt nicht mehr berichten, woraufhin sich ein anderes Mitglied der Redaktion meldete mit dem Vorschlag, die Redaktion solle sich ab sofort Revadaktion nennen, um über den Noitkadaver zu berichten, die Reaktion der restlichen Redaktion auf diesen Vorschlag war allgemeines Kopfschütteln, mitten in diesem Kopfschütteln fuhr ein Schieber an den Redaktionsmitgliedern vorbei, also ein auf Schiern fahrendes männliches Schwein, ein Mitglied der Redaktion machte daraufhin den Vorschlag, Noit durch den Schieber im Kader zu ersetzen, die Reaktion der restlichen Redaktion war noch mehr Kopfschütteln, denn schließlich, so die einhellige Meinung der restlichen Revadaktion, schließlich sei die Würde des Menschen unantastbar, man könne Noit, selbst wenn er nur mehr ein Kadaver sei, nicht durch ein auf Schiern fahrendes männliches Schwein ersetzen, was allgemeines Kopfnicken hervorrief und in dem Beschluss mündete, nicht mehr über den Kader für das Schirennen zu berichten. Der Vorschlag, als Revadaktion über den Noitkadaver zu berichten, wurde ebenfalls nicht weiter verfolgt.