Fortsetzung von Teil 1
Nach diesem gemeinsamen Ausflug sahen Mitterbichler und ich uns nicht wieder. Ich wollte, ich musste weg vom Stoissertal: war in Wien, in Rom, in Paris, in London. Und schließlich landete ich in München.
Und hier bin ich, in München, an einem grauen Dezembertag des Jahres 2020, kurz vor Weihnachten, mitten im Lockdown der Corona-Krise, Vorderbrandner fuhr mich mit einem London-Taxi durch die Stadt, wir hatten, wie gesagt, triftige Gründe dafür, schließlich arbeiteten wir an unserem weihnachtlichen Feature Alkoholismus unterm Tannenbaum, kamen aber nicht recht voran. Bewegung inspiriert, hofften wir. Vorglühen zu Weihnachten, Vollrausch zu Sylvester – beides ist dieses Jahr nicht möglich. Es herrscht eine Sehnsucht nach Normalität. Das hatte ich bisher notiert. Wir warfen uns Parolen zu wie Alkohol, das Öl der Gesellschaft oder Gemeinsam saufen ist normal, alleine saufen ist fatal. Die Sehnsucht der Herzen nach Normalität. Um uns weiter zu inspirieren, spielte ich im geräumigen Fond des Taxis, wo ich meine Gitarre fertig gestimmt hatte, die umgetextete Version des Weihnachtsklassikers Ihr Kinderlein kommet:
Ihr Kinderlein saufet, oh saufet doch all Ins Koma euch saufet zu Bethlehems Stall Und seht was in dieser hochgeistigen Nacht das Saufen ins Koma für Freude uns macht Oh sehet die Hirten, den Kai und den Udo, Ihnen ist kotzübel, sie kotzen ins Stroh Vom vielen Komasaufen ist ihnen ganz schlecht Manche würden sagen: "Das geschieht ihnen recht!" Oh sehet das Kindlein im vollgekotzten Stroh Maria und Josef suchen derweil ein Klo Und weil sie keins finden machen sie ins Gebüsch Da sehen sie Kai und Udo und rufen: "Erwischt!"
Hier die Version unseres Features, die wir schlussendlich gesendet haben:
Aber das nur nebenbei, denn unsere Taxifahrt ging weiter und nahm einen unerwarteten Verlauf: Plötzlich nämlich, ich legte die Gitarre gerade zur Seite, fiel mir eine verwirrte Gestalt am Straßenrand auf, ich schaute ihr nach, die Gestalt trug eine abgetragene braune Jacke mit einem roten, einem gelben und einem weißen Streifen über der Brust und an den Ärmeln. Ich schaute in die andere Richtung, um das eben Gesehene zu verarbeiten. Oder um es zu vergessen. Als es mich wie der Blitz traf: Mitterbichler? Mitterbichler. Mitterbichler! –
„Halt sofort an!“
„Geht hier nicht.“
„Doch, halt an! Lass mich raus!“
Unter einem Hupkonzert lief ich über die Straße. Er war es, natürlich, wer sonst, die verwirrte Gestalt war Mitterbichler, in der Jacke wie damals in Schwabing, fröstelnd, mit wirrem Blick. Als ich näherkam, merkte ich: Er war völlig betrunken.
Ich hätte ihn stehen lassen können, aber ich tat es nicht, ich zerrte ihn ins London Taxi, Vorderbrandner fuhr weiter, Mitterbichler lag auf der Rückbank, völlig apathisch, nicht ansprechbar, ich sagte zu Vorderbrandner: „Oasis: Don’t Look Back in Anger – spiel das mal!“ Als die ersten Töne erklangen, horchte Mitterbichler auf: „Back to Anger“, murmelte er. Dann kotzte er ins Auto.
Nachdem wir an der Tanke das Gröbste entfernt hatten, sagte ich zu Vorderbrandner:
„Fahr nach Anger!“
„Wohin?“
„Salzburger Autobahn, kurz vor der Grenze.“
Es war schlechte Luft im Wagen. Mitterbichler schlief röchelnd auf der Rückbank ein, während ich ihn vom Klappsitz hinter der Fahrerkabine beobachtete. Ab und zu zuckte er hoch, schaute erschreckt, um wieder wegzudösen.
„Ich sag dir, was mit dem ist“, sagte Vorderbrandner und setzte zu einem Vortrag an: „Der Opa war bei der Wehrmacht und hat nicht darüber geredet, die Oma hat das Mutterkreuz verliehen bekommen und war stolz darauf, mit dem Vater durfte nicht über Neger geredet werden, denn schon Schlesier und Sudetendeutsche waren unerträgliche Menschen, und die Mutter flüchtete sich in ihrer Verzweiflung in eine christliche Doppelmoral. Ein ganz normaler bayrischer Lebenslauf: Über nichts darf geredet werden, man spürt und fühlt es dafür umso mehr, man bekommt Angst vor diesen Gefühlen und muss sie betäuben. Mit Alkohol.“ Mitterbichler röchelte unbeeindruckt auf der Rückbank weiter, während ich überlegte, ob wir Vorderbrandners Vortrag in unser Feature aufnehmen sollten.
In Anger hielten wir am Dorfplatz, Mitterbichler röchelte weiter, Vorderbrandner und ich stiegen aus. Ich schaute zurück und sah, wo Mitterbichlers Wagen gestanden hatte, damals, als wir nach München aufbrachen. Da kam mein Onkel daher: „Emil, was für eine Überraschung! Schöne Weihnachten! Schau doch wieder mal am Sportplatz vorbei!“ Seine Augen wurden glasig, das werden sie immer, seit mein Vater, sein Bruder, tot ist: „Was führt dich hierher, Junge? Hat dich das Heimweh gepackt?“
„Wir haben den Mitterbichler im Auto. Wohnt der noch hier?“
„Ja, ja, gleich da drüben. Bei seinen Schwiegerleuten im Haus, mit seiner Frau und seinen zwei Kindern… – ja, was ist denn mit ihm?“
„Der hat einen totalen Rausch.“
„Oh mei, oh mei, des Corona! Normalerweise geht er zum Sportverein oder zur Musikkapelle einen heben, aber des geht ja jetzt ned…“
Mein Onkel schaute verwundert auf unser Taxi. Ich öffnete die Tür, daraufhin stieg mein Onkel in den Wagen und weckte Mitterbichler unsanft: „Geh jetzt heim und schlaf dein Rausch aus, du besoffener Depp!“
Mitterbichler kroch aus dem Wagen und schlurfte nachhause.
Ich blickte hoch zum Stoissberg und überlegte für einen Moment, Vorderbrandner allein fahren zu lassen und in Anger zu bleiben, da sagte mein Onkel: „Und jetzt? Fahrt’s wieder? Weg aus dem Risikogebiet Berchtesgadener Land?“ Er lächelte mit seinen immer noch glasigen Augen.
Ich stieg ein, Vorderbrandner lenkte das Taxi auf die Autobahn. Ich blickte hinten raus, zurück nach Anger, und sagte zu Vorderbrandner: Spiel bitte noch einmal Oasis – Don’t Look Back in Anger!“