Sonnensehnsucht (Tief im Westen)

Himmel über Aubing

Gegen Abend hin überkam mich eine tiefe Sehnsucht nach der Sonne. Ich fuhr ihr nach, in den Westen, wo sie untergeht. Die Stadt zieht sich weit nach Westen, sie hat, so scheint es, auch die Sehnsucht des Abends nach der Sonne. Wo einst die Könige weilten im Sommer, auf Schloss Nymphenburg, endet diese Sehnsucht nicht, die Stadt dehnt sich weiter aus hinter Nymphenburg, durch den Durchblick durchquerte ich sie bis Schloss Blutenburg, doch die Stadt streckte sich noch immer, bis zum ehemaligen Bauerndorf Aubing, wohin die Bergsonstraße mich leitete. Mächtige Bahnanlagen unterquerend, verlor ich fast die Hoffnung auf die Sonne, meine Sehnsucht schien sich einer Verzagtheit zu ergeben. Diese Stadt hört doch niemals auf! Doch ich trat weiter in die Pedale, als schien eine unsichtbare Kraft mich zu leiten. Ich erreichte den erhaltenen Kern Alt-Aubings, ländliche Idylle stellte sich ein, doch der Blick nach Westen war noch immer nicht frei. Weiter, immer weiter nach Westen, nun, nach Überquerung einer weiteren Bahntrasse, sah ich freies Feld vor mir, endlich. Weit vor mir erhob sich eine grüne Hügelzunge, die wollte ich noch erreichen, als krönenden Abschluss meiner Abendsonnenanbetung. Die Hügelzunge erwies sich als Einhausung der Autobahn A99. Kein Platz zum Verweilen, entschied mein Gemüt, ich fuhr weiter, mein Gefühl leitete mich zur Moosschwaige, ein Kleinod der Einsamkeit. Im Bach kühlte ich meine Füße und mein Gemüt. Endlich – ich hatte die Stadt hinter mir gelassen, ich war tief im Westen angelangt! Ich beobachtete die Sonne auf ihrem abendlichen Weg. Ich spürte das Raumschiff Erde, wie es durch Raum und Zeit schwebt. Demut überkam mich vor der Größe dieser Welt, und ich sprach langsam und bedächtig:

Alles wird wieder groß sein und gewaltig.
Die Lande einfach und die Wasser faltig,
die Bäume riesig und sehr klein die Mauern;
und in den Tälern, stark und vielgestaltig,
ein Volk von Hirten und von Ackerbauern.

Und keine Kirchen, welche Gott umklammern
wie einen Flüchtling und ihn dann bejammern
wie ein gefangenes und wundes Tier -
die Häuser gastlich allen Einlassklopfern
und ein Gefühl von unbegrenztem Opfern
in allem Handeln und in dir und mir.

Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben,
nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn
und dienend sich am Irdischen zu üben,
um seinen Händen nicht mehr neu zu sein.

(Rainer Maria Rilke)

Zufrieden und gestärkt verließ ich die ländliche Idylle, ich trat in die Pedale, über die grüne Autobahnbrücke zurück, da erreichte ich sie wieder, die Stadt, ich hatte sie schon vermisst, blieb andächtig stehen vor dem Himmel über Aubing:

Stationen der Reise von Ost nach West:
Nymphenburg
Durchblick
Blutenburg
Bergsonstraße
Aubing
Moosschwaige

Scheider von Gut und Böse

Ich sah mich mit der Aufgabe konfrontiert, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, ja, die Aufgabe wurde mir aufoktroyiert, indem man mir sagte: Seien Sie der Scheider von Gut und Böse! Ich fing daraufhin zu denken an, denn wie sollte ich diese Aufgabe sonst angehen als denkend: Wenn ich gut bin, sehe ich das Böse. Wenn ich böse bin, sehe ich das Gute. Oder ist es umgekehrt: Wenn ich gut bin, sehe ich das Gute… Ehe ich den Gedanken zuende denken konnte, hörte ich jemanden sagen: Negerin, hör auf mit dem Scheiß! Ich wollte einschreiten, denn es schien ein klarer Fall von Rassismus vorzuliegen, als die Angesprochene die Pistole auf den Rassisten richtete und sagte: Ich knall dich ab, du weißer männlicher Macho! und sie ließ ihren Worten Taten folgen, verballerte ihre ganze Munition, und der weiße männliche Macho, der sich eben als Rassist geoutet hatte, starb in einem roten Blutbad.

Ich versuchte gerade, das Erlebte zu verarbeiten, als sie, die ich hier, um dem Lesefluss zu dienen, scheiß Negerin nenne, ohne rassistischen Hintergrund, nur zur besseren Unterscheidung, sagte: Guck nicht so blöd, sonst knall ich dich auch ab! Woraufhin ich dachte: Stimmt, logisch, ich bin auch ein weißer männlicher Macho, wobei der Macho in mir, naja, bin ich nicht eher ein weißer männlicher Weichling?, doch plötzlich überkam mich Angst, die meine Macho- und Weichlingsgedanken verdrängte, und ich beeilte mich zu sagen: Nein, nein, ich guck nicht blöd, im Gegenteil, ich find das gut, klarer Fall von Rassismus, da muss man Zeichen setzen, #notoracism, ■ und so, ja gut, das sind Zeichen, aber ich meine, nur Zeichen?, nein, man muss Taten setzen, es abknallen, dieses weiße männliche Machoschwein, dessen Vorfahren die Neger erst ausgebeutet und dann getötet… Sie winkte ab und ging weg, und ich dachte mir: Wow, krasser Einstieg in meine Tätigkeit als Scheider von Gut und Böse, und folgende Fragestellung drängte sich mir auf: Wäre die scheiß Negerin mit der Pistole ein Bleichgesicht gewesen – wäre es dann Mord gewesen, oder lediglich die Rache einer unterdrückten weiblichen Weißen an einem weißen männlichen Macho? Ich hatte das Gefühl, die Gedanken türmten sich in mir auf, sie zwangen mich in die Knie, und insofern war es gut, dass ich auch diesen Gedanken mit den Weißen beiderlei Geschlechts nicht zuende denken konnte, denn eine Person mit einem kleinen schwarzen Hütchen auf dem Kopf kam mir entgegen, was ich lustig fand. Die Person sagte: Guck nicht so blöd! Das kam mir bekannt vor, doch dann sagte die Person: Bist wohl ein scheiß Nazi, oder was? Ich dachte, ja: Ich dachte schon wieder, und diesmal dachte ich: Vielleicht trage ich die Haare zu kurz?, doch dann begriff ich: Nein, der Nazi ist im Kopf dieser Person mit dem kleinen schwarzen Hütchen auf dem Kopf, ein festes Konzept im Kopf dieser Person, der böse Nazi, ein durchaus plausibles Konzept, ich schien dem Scheiden von Gut und Böse näher zu kommen, als die Person rief: Wir sind das auserwählte Volk und ihr seid alles scheiß Nazis! Schämst du dich denn nicht, du Verbrecher, du Mörder des auserwählten Volkes! Ich böse, Person mit schwarzem Hütchen gut? So denkt zumindest die Person mit dem schwarzen Hütchen, unerbittlich, und in mir blitzte der Gedanke auf, das gut und böse verwerfliche Konzepte sind, Konzepte, die in eine Spirale der Gewalt führen, doch kaum war der Gedanke vom Blitz erleuchtet, fielen Schüsse, begleitet von lauten Schreien – Allahu akbar donnerte es in meinen Ohren, und ich sah die Person mit dem schwarzen Hütchen und mich als die nächsten toten weißen männlichen Machos im roten Blutbad, überhaupt eine ganz schöne Männerveranstaltung hier, war die Negerin nicht doch ein Neger und die Feministin ein Feminist?, doch vor unserem Tod wachte ich schweißgebadet auf und erschrak darüber, wie echt sich dieser Traum angefühlt hatte.

Prozession

Ich weiß nicht mehr, wann es war. Meine Aussicht war jedenfalls so:

Ich war draußen, soviel kann ich aufgrund dieser Photographie feststellen, nicht unter freiem Himmel, nein, unter einem Baum, unter einer Linde, wie ich bei genauer Betrachtung des Blattwerks erkenne, und jetzt erinnere ich mich, ja, ich erinnere mich an ein Hämmern, ich ging diesem Hämmern nach, bis ich einen Buntspecht sah, der auf das Holz der Linde hämmerte. Ich war aufgestanden, um nach dem Buntspecht zu sehen, ich fühlte mich bewegt, etwas bewegte mich. War es die Musik, die ich vernahm,

ohne sie zu hören, die mich bewegte, nein, ich hörte sie nicht, dennoch war sie in meinem Ohr, nein, nicht in meinem Ohr, mehr in meinem Magen, oder in meinem Herz, ja, in meinem Herz: Es öffnete sich. Ich sehe ein ganzes Orchester in der Blumenwiese, Ludwig sitzt ruhig daneben und lauscht seinem Werk. Bist du es wirklich, Ludwig? frage ich, ich bin gerührt, aber da ist er verschwunden, er und das Orchester. Die Musik bleibt bei mir, sie bewegt mich, sie bewegt mich durch die grüne Natur des Frühsommertages. Die Bienen schwirren über die Wiese, mir schwirrt der Kopf, etwas bewegt mich, ich bewege mich fort im Rhythmus der Musik, es ist eine Prozession, ja, endlich habe ich das Wort gefunden, es ist eine Prozession durch das Wunder des Lebens, und ich lebe mitten in diesem Leben, diesem Leben, das ich nun aufzählen will: Da wäre zunächst der Regenwurm unter mir und weiters der Buchfink über mir, aber halt: Ich stoppe mein Aufzählen, mein Aufzählen weicht meinem Staunen. Das Graben des Regenwurms, der Gesang des Buchfinks, aber vor allem Ludwigs Musik, etwas bewegt mich, immer heftiger, ich fliege und drehe mich, bis ich mir schließlich keiner Perspektive mehr sicher bin

und ich spüre: Wie schön ist dieses Leben, wenn ich es mit Liebe betrachte. Ludwig, bist du noch da? Ja, ich glaube, dort hinten im Gras, in den Blumen, da sitzt du. Meine Empfindungen, wie soll ich sie beschreiben? Bei meiner Prozession durch die grüne Natur dieses Frühsommertages. Deine Musik beschreibt doch schon alles.

Andre Ananas – eine Kindergeschichte

Diese Geschichte kann ich im Grunde gar nicht erzählen, sagt Uteto Fritz, denn ich habe aufgehört, mich mit der heilenden Wirkung von Sprache zu beschäftigen und bin deshalb auch nicht mehr als Sprachenergetiker tätig, als ich mich plötzlich mit Andre, Andreas und Anna in einem Raum befand, einem Raum, der wie ein Therapiezimmer wirkte, Familientherapie, sagte Andreas, wir brauchen Familientherapie, so wie wir früher Paartherapie brauchten, sagte Andreas, und blickte Anna an, so brauchen wir jetzt Familientherapie, und blickte Andre an.

Andre blickte neugierig im Zimmer herum, gut, dachte ich, sagt Uteto Fritz, er hat die Neugier eines Kindes noch nicht verloren, die geht ja oft verloren in der Obhut der Eltern, vor allem, wenn sich die Neugier auf das Leben der Eltern erstreckt, denn Eltern – das haben sie von ihren Eltern gelernt – halten ihr Leben gern versteckt, schließlich holte Andre einen Block heraus, einen Schreibblock, und Andreas kommentierte dieses Schreibblockherausholen sofort, er sagte: Ja, Andre schreibt schon, sehr viel, obwohl er erst in die dritte Klasse geht, in die dritte Klasse geht er und schreibt schon so viel, und er ist ein aufgewecktes Kind, wissen Sie, Anna und ich, wir sind stolz auf ihn, dennoch machen wir uns Sorgen, denn Andre isst für sein Leben gern Ananas, aber jetzt isst er nicht einmal mehr Ananas, im Gegenteil, ich reiche ihm eine Ananas und er wirft sie Anna ins Gesicht, mitten ins Gesicht, das geht doch nicht, was sollen wir denn da machen, das Leben ist die beste Therapie, ja, aber doch nicht so ein Leben mit so einem Kind, Familientherapie – Sie sind doch Familientherapeut? – Familientherapie ist unsere letzte Hoffnung, ich meine, das Kind weggeben, wir wollen nicht daran denken, aber es geht doch nicht, dass Anna und ich an diesem Kind zu Grunde gehen, wo wir so viele Jahre mittels Paartherapie an unserer Beziehung gearbeitet haben, Paartherapie, das hat uns geholfen, das hat uns auch das gewünschte Kind gebracht, wir konnten doch nicht ahnen, dass das Kind unser mühsam erarbeitetes Gleichgewicht so durcheinander bringen würde, wir –

Plötzlich stieß Andre einen lauten Schrei aus und richtete seinen Stift wie einen Pfeil gegen Andreas.

Sehen Sie! sagte Andreas, was sollen wir nur tun? Wir sind mit unseren Nerven am Ende!

Ich wandte mich Andre zu, sagt Uteto Fritz, und sagte: Du schreibst doch sehr gerne, Andre – schreib was über dich! Andre lächelte und schrieb, langsam und bedächtig, in seinen Schreibblock: