Max Klopfer und ich haben als Kinder viel Zeit miteinander verbracht. Besonders an unsere gemeinsam verbrachten Winter erinnere ich mich. Sobald genug Schnee lag, stapften wir mit unseren Schiern von unserer Siedlung zur nahegelegenen Leiten und fuhren sie runter, gingen sie rauf, fuhren sie runter, stundenlang. Eine besondere Leidenschaft entwickelten wir beim Bau von Schanzen, über die wir dann sprangen. Immer größer und tollkühner wurden unsere Schanzen. Wir übertrieben es: Einmal stürzte Max, holte sich unzählige blaue Flecken und brach sich einen Finger. Zwei Tage später aber war er schon wieder am Hang, mit einer Schiene an der Hand. Sein Vater war mitgekommen und belehrte uns:
„Jungs, ihr müsst eure Schanzen mehr in den Hang bauen, nicht so weit unten wo es schon flach wird.“
„Aber dann ist der Anlauf zu kurz!“ monierte Max.
„Der ist schon noch lang genug! Oder willst du dir Arme und Beine auch noch brechen!“
Max war ruhig.
„Außerdem“, meinte sein Vater weiter, „müsst ihr den Tisch der Schanze flacher und nach unten bauen. Dann katapultiert es euch nicht mehr so hoch in die Luft und ihr landet weicher.“
„Aber das ist doch langweilig!“ monierte Max.
„Nein, ihr springt dann flüssiger und weiter.“
Max Vater baute mit uns eine neue Schanze, die wir natürlich sofort nach Fertigstellung besprangen. Wir sprangen weiter und flüssiger, mit weniger Anlauf.
„Toll!“ sagte ich zu Max, als sein Vater gegangen war: „Woher weiß er das alles?“
„Das hat ihm sein Onkel Heini gezeigt.“
Max Leidenschaft für das Schispringen wurde so groß, dass unsere Leiten dafür zu klein wurde. Sein Vater fuhr mit ihm zu den Schanzen am Kälberstein, wo er immer weiter springen konnte. Schließlich ging er ins Sportgymnasium, weil er Schispringer werden wollte. Ich sah Max jahrelang nicht mehr, hörte nur über ihn und von seinem großen Talent fürs Schispringen. Jahre später, bei der deutschen Juniorenmeisterschaft auf der großen Kälbersteinschanze, habe ich zugeschaut. Max war einer der Favoriten auf den Sieg. Doch im ersten Durchgang stürzte er schwer. Seinen Sprung habe ich als sehr merkwürdig in Erinnerung: Völlig unkoordiniert und irgendwie leblos fiel er den Hang entlang, krachte hart und früh im Steilen auf und rutschte mit hoher Geschwindigkeit ins Flache. Unter den Zuschauern war große Unruhe, viele kannten ihn ja. Von ihm sah ich nichts im Getümmel, nur noch die blauen Lichter des Rettungswagens, der ihn abtransportierte.
Nun muss ich den Übergang zur näheren Vergangenheit herstellen. Diese nähere Vergangenheit ist einige Monate her, und sie gestaltete sich so, dass Max und ich uns über den Weg liefen. Nicht bei einem Heimatbesuch an der Leiten, wie zwei Nostalgiker, die auf ihr bisheriges Leben zurückblicken, sondern an einer Kreuzung, als wir mit unseren Fahrrädern auf das Grün der Ampel warteten. Genau genommen liefen wir uns nicht, sondern fuhren wir uns über den Weg. Nach über zwanzig Jahren fuhr ich meinem Kindheitsfreund Max Klopfer über den Weg. Max hatte einen Koffer auf seinen Rücken geschnallt, in dem eine Gitarre steckte. „Komme von der Probe“, sagte er. „Ich auch“, sagte ich. Anschließend gingen wir gemeinsam in eine Kneipe.
Als wir saßen, sagte ich: „Das letzte Mal habe ich dich gesehen bei deinem Sturz am Kälberstein.“
Max wurde nachdenklich: „Mein Sturz am Kälberstein…“, wiederholte er und blickte innerlich zurück, „der war ein Einschnitt in meinem Leben. Ich bin danach nie mehr von einer Schanze gesprungen.“
„Waren deine Verletzungen so schwer?“
„Nein, nein, das wäre schon wieder gegangen: Gehirnerschütterung, schwere Prellungen, aber sonst nichts. Ich hab mich wacker geschlagen. Nein, nein: Ich hatte kein Vertrauen mehr.
Ich hab mich damals, in den Wochen vor dem Springen, mit Barbara getroffen, meiner ersten Freundin. Und genau am Abend vor dem Springen haben wir zum ersten Mal so was wie Sex gehabt, naja…, wir kamen uns sehr nahe, es war das ungelenke und ängstliche Tun zweier Teenager, aber sehr schön. Sehr schön. Es hat mich total überwältigt. Ich hab bei ihr geweint, so überwältigt war ich. Jemandem so nahe zu sein, das hat mich umgehauen.
Am nächsten Tag auf der Schanze war es komisch. Ich hatte kaum geschlafen, musste mich aufrappeln. Ich hatte keine Lust auf das Springen. Das kannte ich nicht. Bis dahin war ich immer der erste an der Schanze gewesen. Der Probesprung ging in die Hose: Mit zitternden Beinen fuhr ich den Anlauf hinunter, erwischte den Absprung nicht gut, sprang kurz und landete wackelig. Im ersten Wertungsdurchgang saß ich auf dem Balken und fühlte mich völlig abwesend. Ich stieß mich ab mit einer Art ferngesteuerter Routine, und als ich den Anlauf hinunterfuhr, geschah etwas, das mich hinterrücks überraschte: Ich dachte plötzlich nur noch an Barbaras Brüste. Ich fand Barbara wunderschön, aber ihre Brüste hatten es mir besonders angetan, diese weichen zarten Äpfelchen. Ich dachte nur noch an ihre Brüste, ich bekam Panik, plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich das überhaupt nicht kann, mich mit Schiern an den Füßen in die Luft zu katapultieren und den Hang hinunterzugleiten. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz, wollte bei Barbara sein, da schleuderte es mich in die Luft, ich wusste nicht was ich tun soll, der Hang kam näher und dann war plötzlich alles dunkel…