Der Gatte steht am Gatter,
singt eine öde Ode.
Die Gattin steht daneben,
langweilet sich zu Tode.
Sie sagt: Das ist mir eine Öde,
zu zweit ist sie genauso blöde.
Im weiten Weiler will ich weilen,
nicht in der Streusiedlung, der steilen.
Und geht vom steilen Gatter weg,
den Gatten schert das einen Dreck,
singt weiter seine öden Oden,
kratzt sich dabei am linken Hoden.
Die Gattin kratzt sich nun im Schritt.
Begatten nimmt einen halt mit.
Dieser Mann beobachtet uns, sagte Josefine. Dieser Mann mit den dunklen langen Haaren und dem dunklen langen vollen Bart hatte eine Kurve um uns gemacht, dabei grüßend genickt und sich nahe von uns ins Gras gesetzt, zu nahe, wie Josefine fand, und nicht nur Josefine fand das, auch ich fand, dass er sich zu nahe zu uns ins Gras gesetzt hatte. Er saß nicht frontal zu uns, nein, ich würde sagen, er saß in einem Winkel von etwa fünfunddreißig Grad zu uns, doch wenn er seinen Kopf um fünfunddreißig Grad drehte, blickte er frontal zu uns, was er gerade tat, als ich zu ihm hinüberblickte, und so blickten wir uns kurz in die Augen, ehe er seinen Kopf drehte, in welche Richtung und um wieviel Grad weiß ich nicht mehr, jedenfalls drehte er ihn, um nicht mehr frontal zu uns zu blicken. Josefine hatte sich in der Zwischenzeit auf den Rücken gelegt und blickte zum Himmel, ich lag neben ihr und blickte auf ihren Körper, auf ihren Kopf, von dort auf ihren Hals, auf ihre Brust, auf ihren Bauch, ihre Arme und Hände, auf ihre Hüfte, auf ihre Beine und Füße, so als wollte ich mich überzeugen, dass sie es wirklich ist, als sie sagte: Ich möchte ein Vogel sein, worauf ich meinen Blick von ihren Füßen auf ihre Augen richtete, und bei diesem Blick in ihre Augen sah ich aus meinem Augenwinkel, dass der Mann, der uns beobachtete, seinen Kopf nun gerade zu seinem Körper ausgerichtet hatte, also um etwa fünfunddreißig Grad zu uns versetzt, seine Augen jedoch um diese etwa fünfunddreißig Grad zu uns gedreht hatte, und ich staunte, wieviele Drehungen der menschliche Körper imstande ist zu machen.
Was ist? fragte Josefine.
Er beobachtet uns. sagte ich.
Ich weiß. sagte Josefine.
Ich stand auf, ging zu ihm und sagte: Sie beobachten uns.
Ja, ich beobachte Sie, sagte er, und ich habe dabei Folgendes festgestellt…
Ihre Feststellungen interessieren mich gerade nicht, unterbrach ich ihn, ich komme gegebenenfalls später darauf zurück.
Ich ging zurück zu Josefine und legte mich wieder neben sie. Ich hatte das Gefühl, dass ich den Komplexitätsgrad der Beobachtungen nun verstand: Der Mann beobachtete uns, ich beobachtete ihn und Josefine, und Josefine fühlte sich beobachtet und beobachtete den Himmel und wollte ein Vogel sein, doch obwohl ihre Augen nur gen Himmel gerichtet waren, verriet ihr Blick, dass sie auch den Mann und mich beobachtete, durch ihre Haut, und die Härchen auf ihrer Haut stellten sich auf, so als wollte sie sagen: Kommt mir nicht zu nahe!
Aus meinem Augenwinkel sah ich, dass der Mann, der uns beobachtete, aufstand. Er machte wieder eine Kurve um uns und dann sagte er, nicht verbal, nein, nur in der Art, wie er blickte: Ich habe genug gesehen! Da lag ich also nun neben Josefine, und ich dachte, nun, wo der Mann nicht mehr da ist, der uns beobachtet hat, wird alles leichter sein, doch das Gegenteil war der Fall, alles war steif und schwer, meine Hand tapste hilflos Richtung Josefine, ohne sie zu erreichen. Mein Kopf sank ins Gras mit den Augen nach unten, während Josefine, die noch immer zum Himmel blickte, etwas sagte, das zwar sehr entfernt klang, das ich aber trotzdem verstand. Sie sagte, ihr sei kalt und sie habe Hunger nach etwas Warmem, Deftigem, und so gingen wir in die nahe Wirtschaft und bestellten zwei Würste, eine Wurst für jeden von uns, die zwischen uns auf einem Teller lagen, und Josefine aß zufrieden ihre Wurst und lächelte, während meine mir schon während dem Essen schwer im Magen lag, irgendetwas lag mir schwer im Magen, nicht nur die Wurst, vielleicht unsere Getrenntheit, ja, unsere Getrenntheit, obwohl wir uns so nah am Tisch saßen, tat sich eine Wand zwischen uns auf, und je kleiner ich die Wand machen wollte, desto größer wurde sie, eine dicke Wand aus Glas, durch die ich Josefine nur mehr undeutlich wahrnahm, und mich fröstelte und ich hörte Josefine noch sagen, dass es sie fröstelt, und dann war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob es Josefine war, die das gesagt hatte, alles war so fremd, und ich vermeinte, den bärtigen, dunkelhaarigen Mann am Nebentisch zu sehen wie er uns beobachtet und Josefine schämte sich, dass der Mann uns beobachtet, und in mir kam alles durcheinander, als es plötzlich von unten sehr warm wurde und es mich in die Höhe hob, nicht nur mich, auch Josefine, es hob uns über die Glaswand, und dort oben trafen wir uns, und ich wusste über alle meine Wünsche Bescheid und sie wurden wahr, und deshalb zweifle ich, ob es noch die Wahrheit war, die ich wahrnahm, oder nur ein schöner Traum.
Doch es gibt Aufzeichnungen zu diesen Begebenheiten, die ich Ihnen, lieber Leser, nicht vorenthalten möchte. Und seit diesen Begebenheiten glaube ich, dass jeder Traum wahrer ist als das, was ich oft versehentlich für die Wirklichkeit halte.
Hubert Norbert Robert Lindner, besser bekannt als H.N.R. Lindner, ist ein in Paris lebender Sänger klassischer Musik, der ursprünglich aus dem Dorf Linden im oberbayrischen Voralpenland stammt. Kürzlich hatte er einen umjubelten Auftritt in Deutschland. Doch wer ist dieser H.N.R. Lindner eigentlich?
Fragt man die Leute in Linden nach ihm, so sagen sie: Ja mei, der Lindner Bert, unser Franzose! Der war schon immer ein komischer Vogel!
Der Lindner Bert, wie er in seiner Heimat genannt wird, ist als Bub mit dem Bus zum nächstgrößeren Dorf in die Schule gefahren. In dem Bus saß auch die Lindner Berta, die auch aus Linden war und ins nächstgrößere Dorf in die Schule gefahren ist. In Linden heißen sehr viele Menschen Lindner, sie schreiben sich so, wie man im Dorf sagt, und es ist in Linden ein Volkssport, zu diskutieren, ob man mit einem anderen Lindner verwandt ist oder nicht. Bert fragte seine Eltern, ob er mit Berta aus dem Schulbus verwandt ist, und sie verneinten, und so fragte er seine Oma, und die verneinte auch. Bert war enttäuscht, denn wenn er mit Berta verwandt wäre, wäre er ihr näher, dachte er. Und das war alles, was er wollte: Berta nahe sein, nicht nur im Schulbus. Aber Berta ignorierte ihn weitestgehend, sogar im Schulbus mied sie es, sich neben Bert zu setzen. Voller Sehnsucht nach Berta streifte Bert nach der Schule durch die Wälder um Linden. Um seine Sehnsucht zu besänftigen, fing er zu singen an, stundenlang. Nur beim Singen bin ich bei mir, ansonsten wäre das Leben für mich nicht lebenswert, sagte Lindner kürzlich in einem Interview, und diese Leidenschaft hat wohl damals in den Wäldern um Linden begonnen.
In Linden gibt es ein Tagungshaus nahe am Wald, und an diesem Tagungshaus schlenderte Bert an einem Tag gedankenverloren und singend vorbei, als dort gerade ein Musikprofessor tagte. Der Professor hörte Bert singen, lief zu ihm und nahm ihn anschließend gleich mit auf die Musikhochschule. Bert fühlte sich überrumpelt: Der plötzliche Abschied von Linden, von seinen Wäldern, und vor allem: der Abschied von Berta. Er sang doch nur wegen Berta. Sang er nur wegen Berta? In München gestaltete sich das neue Leben für Bert schwierig, für ihn, der immer nur in Linden und seinen Wäldern oder maximal in der Schule im Nachbardorf war. Gottseidank hatte er das Singen, das machte das Leben für ihn lebenswert.
Als er einmal gedankenverloren und summend in München die Barerstraße im Museumsviertel entlangging, klopfte ihm plötzlich jemand auf die Schulter.
Bert! sagte die Frau, die ihm auf die Schulter geklopft hatte.
Berta! sagte Bert.
Es war tatsächlich die Lindner Berta aus Linden, die aus dem Schulbus, mit der Bert nicht verwandt ist. Berta war in Begleitung eines Asiaten, der, obwohl er Asiate war, viel älter aussah als Berta.
Das ist Mister Li, sagte Berta, wir wollen in Kürze heiraten.
Bert schaute überfordert. Er wollte singen, aber es erschien ihm in der Situation nicht angebracht, und so schüttelte er sich kurz und unterdrückte seinen Singreflex.
Berta, I will go to Alte Pinakothek. Will you join me later? sagte Mister Li.
Berta gab ihm einen Kuss und nickte. Mister Li nickte Bert kurz zu und ging.
Bert fragte Berta: Du hier in München?
Ja, seit einiger Zeit. Ich habe in einer Bar gearbeitet, dort habe ich Mister Li kennengelernt.
Bert schaute in Richtung Alte Pinakothek, wohin Mister Li gegangen war.
Der hat Geld, sag ich dir, meinte Berta weiter, ohne Ende! In China ist es ihm zu dreckig, deshalb will er jetzt in München leben. Stell dir vor: Kürzlich war ich mit ihm in Linden, da hat er, als beim Sommerfest eine Menge Leute um ihn rumstanden, zum Chef des Brauchtumsvereins gesagt: It’s a beautiful village. Can I buy it? Da haben sie mich groß angeschaut, und ich hab gesagt: Er sagt, Linden ist ein schönes Dorf, er möchte es kaufen. Da haben sie geschimpft und haben gesagt, ich soll mich schleichen mit meinem blöden Chinesen. Das habe ich dann auch gemacht, und ich fahr da auch nicht mehr hin, zu diesen eingenähten Idioten!
Berta bebte vor Zorn, und Bert sah Abgründe, die wohl nur mit Musik überwunden werden können, gegen die sich Berta allerdings mit Mister Lis Geld absichern wollte. Bert ging davon, ohne ein Wort, ließ Berta stehen. Alles gefror in ihm, und nicht einmal Musik vermochte ihn aufzutauen.
Berts internationale Karriere als Sänger war zu diesem Zeitpunkt längst am Laufen, und er beschloss, München zu verlassen, die Stadt, in der die Lindner Berta mit Mister Li lebt, und nach Paris zu ziehen. Dort lebt er seit geraumer Zeit mit seinen zwei Möpsen. Sein Entschluss, nach Paris zu ziehen, sei damals wesentlich beeinflusst worden von Morrisseys Lied,
sagte Lindner kürzlich in einem Interview. Warum er sich zwei Möpse angeschafft hat? Die erinnern mich mit ihrer Atemnot immer daran, wie gesegnet ich bin, gut atmen zu können. Denn ohne Atmen kein Singen. Ohne Atmen kein Leben. Und Singen ist mein Leben.
Als er kürzlich in Deutschland war, bei seinem eingangs erwähnten umjubelten Auftritt, besuchte er vorher Linden. Er durchstreifte die Wälder, kam am Tagungshaus vorbei. Dort, wo alles begann. Im Dorf begegnete er Bertas Eltern, die ganz schwarz gekleidet waren. Erschrocken fragte er, was passiert sei.
Die Berta ist tot.
Wieso denn das?
Ihr Mann, der Chinese, hatte sich einen neuen BMW angeschafft und ist mit der Berta die Autobahn Richtung Garmisch entlanggeheizt. Unfall. Tot.
Kränze waren schon am Grab, mit Schleifen daran: Zum Gedenken an Li Berta, geborene Lindner.
Bei seinem anschließenden Auftritt sang Bert die Arie Lascia ch’io pianga. In dieser Arie wird die verlorene Freiheit, la libertà, beweint. Lindner jedoch beweinte, und das wusste nur er, die Li Berta, la Li Berta, seine Liebe aus dem Schulbus von Linden ins Nachbardorf, wo alles begann. Die Feuilletons schrieben nach seinem Auftritt: Lindners Gesang berührt ungemein, denn man hat das Gefühl, dass jedes Wort, das er singt, aus dem tiefsten Grund seines Herzens kommt. Und das ist doch das Höchste, das Kunst erreichen kann: dass sie uns in die tiefsten Tiefen unseres Lebens führt, dorthin, wo es lebenswert ist.
Zeit der Verwirrung – Zeit der neuen Möglichkeiten. Wenn es persönlich wird, gehen mir die Worte aus. Keine Konstrukte möglich, um über Umwege etwas auszudrücken. Nur ich und diese Welt, wie ich sie erlebe. Meine Mitmenschen als Spiegel, und je nachdem wie mutig ich bin, schaue ich in diesen Spiegel oder nicht.
Ich habe meine Bewegungsfähigkeit entdeckt, bin gerannt und gerannt. Davongerannt. Vor meiner Erstarrung. Vor meiner Hilflosigkeit. Vor meiner Angst. Nun stehe ich hier, auf der Wiese des späten Abends, und hinter den Bäumen geht der Mond auf. Hurra, Zeit zum Glücklichsein! Doch das Glück stellt sich höchstens auf intellektuelle Weise ein, nicht auf umfassende. Hänge ich mich im Intellekt fest, um mich vor dem Umfassenden zu drücken? Weiterrennen bringt nichts, obwohl es mich drängt, weiterzurennen, um nicht mehr festzuhängen. Der Hamster im Rad hängt auch fest. Rennen ist nicht die Lösung.
Josefine kommt über die Wiese gelaufen. Der Intellekt sagt: Das kann nicht sein, dass Josefine über die Wiese gelaufen kommt. Das ist der Plot eines schlechten Drehbuchs. Weil der Intellekt nicht will, dass Josefine über die Wiese gelaufen kommt. Weil der Intellekt die Erstarrung, die Hilflosigkeit, die Angst gewohnt ist und sich in ihr sicher fühlt. Aber das Umfassende nimmt wahr: Josefine kommt über die Wiese gelaufen.
Die Angst sagt, ruhig stehenzubleiben und Josefine auf mich zukommen zu lassen. Nur nicht zeigen, wie ich mich fühle. Nur keine Schwäche zeigen. Der Mut sagt, Josefine entgegenzulaufen und ihr zu zeigen, wie ich mich freue, dass sie kommt. Angst gegen Mut. Josefine und ich kennen uns sehr lange, sagt der Intellekt. Wir lernen uns jeden Tag neu kennen, sagt das Umfassende.
Plötzlich ist es mir scheißegal, meine Vorsichten, meine Angst vor Nähe: Ich laufe Josefine entgegen und breite meine Arme aus, und Josefine läuft mir entgegen und breitet ihre Arme aus und es fühlt sich umfassend an und der Intellekt hat nichts zu melden. Ich bin doch nur ein kleines Mädchen, das geliebt werden will, sagt Josefine, als wir uns erreicht haben und uns in den Armen liegen. Und ich ein kleiner Junge, der geliebt werden will, sage ich und merke, dass ich noch nie so geliebt habe wie in diesem Moment, so unbedarft und ohne die Angst, auf der der Intellekt seine Gedankengebäude errichtet.