Man kann an Ostern vieles machen. Man kann in ein Flugzeug steigen und nach New York reisen, und wirklich, ich war kurz davor, in ein Flugzeug zu steigen und nach New York zu reisen, doch dann entschied ich mich, in den Zeller Wald zu fahren und dort dem Gesang des Rotkehlchens zu lauschen. Doch je mehr ich mich auf den Gesang des Rotkehlchens freute, desto mehr fing es in meinem Oberkiefer hinten links zu rumoren an. In Zahn Zweisieben, wie ihn die Zahnärzte nüchtern bezeichnen, hatte sich etwas eingenistet, das von Tag zu Tag mehr Schmerzen verursachte, die am Karfreitag so heftig wurden, dass ich nach schmerzensreicher Nacht am nächsten Tag beschloss, die Notfallambulanz aufzusuchen.
Ich saß im Behandlungsstuhl und betrachtete das Hell und Dunkel auf dem Röntgenbild meines Gebisses. Zahn Zweisieben war in einem jämmerlichen Zustand, bereits wurzelbehandelt und tot, ein lebloser hohler Stift mit einer Plastikkrone obendrauf. Und jetzt hatten sich in diesem leblosen Stumpf wütende Bakterien eingenistet und wüteten hemmungslos. Ich spürte die Aufregung und Anspannung des quicklebendigen Nachbarzahns Zweisechs. Einerseits seine Sorge, die Bakterien könnten auch ihn in Beschlag nehmen, ihn, der noch voll im Saft ist und umso mehr leiden müsste. Andererseits seine Trauer, dass er seinen lebenslangen Nachbar und Freund nun endgültig verlieren würde.
Das Ziehen war kurz und schmerzlos. Die Entsorgung einer Leiche. Mit kühlendem Pad lag ich zuhause auf der Couch und bereitete mich auf mein Leben ohne Zahn Zweisieben vor. Meine Osterpläne waren durchkreuzt. Heute noch wollte ich aufbrechen in den Zeller Wald, doch das Rotkehlchen würde ohne meine Anwesenheit singen. Und an New York war schon gar nicht mehr zu denken. In dieser langen Weile, die ich nun vor mir sah, fand ich Gefallen an der Idee, an Ostern einen Western anzuschauen. Einen klassischen Western: Landnahme, Indianervernichtung. Nicht so weichgespültes Zeug wie Winnetou oder Der mit dem Wolf tanzt. Gedacht, getan: Ich saß stundenlang vor dem Bildschirm und sah die Bilder der kämpfenden Heroen in der Prärie.
Nach ein paar Stunden machte ich den Bildschirm aus. Ich erhob mich von der Couch und ging auf den Balkon. Ein Rotkehlchen sang. Ich blieb auf dem Balkon und lauschte. Eine neue Idee in mir – ein Plot für einen Ostern, als Gegenstück zu einem Western. Ich setzte mich hin und schrieb in meinen Notizblock:
Ein Indianerstamm fällt in New York ein. Blutige Kämpfe. Die weißen Ureinwohner New Yorks werden geschlagen. Viele flüchten nach Long Island. Dort sitzen sie in der Falle, und die Indianer kommen, um sie zu töten. Auf Long Island angekommen, überlegen es sich die Indianer anders und errichten ein Bleichgesicht-Reservat, wo die Weißen von nun an leben dürfen.
Meine Wut auf die westliche Welt. Mein Verlust von Zahn Zweisieben. Man kann an Ostern vieles machen. Man kann auch traurig darüber sein, Zahn Zweisieben verloren zu haben.